Namenlos

von Christa Maria Buß

 

Später hätte jeder einzelne Mensch sagen können, wo er sich befand, als am Himmel der Mond erschlagen wurde. Wenn denn einer gefragt – und eine weitere menschliche Seele außer mir überlebt hätte. Am Tag, als feststand, dass wir nicht überleben würden, an diesem Tag erzählte mir Amy, dass sie schwanger war.

Die alles vernichtende Katastrophe bahnte sich zunächst als grandioses Schauspiel am Himmel an. Monate zuvor machten die ersten Sternenbeobachter die Entdeckung, dass sich der Sternenhimmel von Zeit zu Zeit verdunkelte. Absolute Schwärze, bodenloses Nichts, ein riesiger blinder Fleck. In einer euphorischen Stimmung glaubte man zunächst noch an ein Wurmloch. Diese Autobahnen zwischen den Sternen und Milchstraßen, die das Reisen zu entferntesten Galaxien ermöglichen sollen, die nie ein Mensch zuvor gesehen hatte. Doch die Welt hatte weder die Mittel noch die Einigkeit, eine derartige Mission zu starten. Trotzdem … allein der Gedanke gefiel.

Pustekuchen.

Die Sternenwarte in Chile, das La-Silla-Observatorium, machte diese absurde Hoffnung zunichte. Ein Meteor, von gewaltiger Masse, mehrere zehn Kilometer Durchmesser, ein riesiger Klumpen aus schwarzem Eis und Stein, raste durch unsere Milchstraße. Irgendjemand gab ihm den Namen Erebos. Erebos – die personifizierte Finsternis. Ein Name, der ihm in jeder Hinsicht gerecht wurde. Er verdunkelte die Sterne, er fraß jedes Licht in seiner Umgebung, ja er glitt als unglückverheißender Schatten lautlos durch die Galaxie. Kein Schweif, kein Licht – nur Finsternis.

Zuerst waren alle enttäuscht, die Reise zu den Sternen war abgeblasen. Erebos verschwand hinter der gleißenden Korona der Sonne und ebenso aus den Nachrichten und unseren Gedanken. Die Menschheit war mehr als froh, ihn vergessen zu können. Hatten wir nicht schon genug Probleme auf der Erde? Wir brauchten nicht noch ein Weiteres, das sich genauso wenig lösen ließ wie so viele Andere. Das Leben nahm seinen gewohnten Gang. Ich unterrichtete an der hiesigen Grundschule. Amy ging weiter auf die Uni, um ihren Abschluss zu machen. Wir kauften das Haus auf dem Land. Es lag auf einem Hügel, ein Apfelbaum stand im Garten, ein weißer Lattenzaun. Idyllisch, bezaubernd, gemütlich. Unser. Wir waren glücklich, diese Tage und Wochen. Wir hatten eine Zukunft. Und im Nachhinein sehe ich es als gottgewollte Gnade, dass uns diese Momente des Zweiseins gegeben waren.

Denn dann kehrte Erebos zurück.

Bei seinem Flug war er in die Anziehungskraft von Jupiter geraten, dem größten Planeten unseres Sonnensystems. Jupiter, der immer als Blitzableiter für unsere Erde gegolten hatte, setzte nun mit seiner Masse die Vernichtung unserer Welt in Gang. Erebos schwenkte von seiner Flugbahn ab, umrundete Jupiter und in einer elliptischen Flugbahn befand er sich nun auf einem Kurs, der ihn gefährlich nahe an die der Erde herankommen ließ. Mit dem Weltraumteleskop Hubble wurde beobachtet, wie er bewusst böswillig heran schoss. An der Sonne vorbei und hier, endlich, löste sich vieles von seinem Eis und hinterließ einen Schweif, der weiß und grün leuchtete. Wenn man es nicht besser gewusst hätte, hätte man gesagt, es wäre ein brillantes Feuerwerk in einer nie gekannten Dimension. Die Hoffnung, dass die Sonne noch mehr seines Eises und Steins verbrennen würde, wurde bald zunichte. Erebos war … unzerstörbar. Vernichtend. Rachsüchtig – so schien es mir. Rachsüchtig, weil wir ihm einen verhängnisvollen Namen gegeben hatten und weil die Freude über sein Verschwinden so offensichtlich gewesen war.

Erebos kam zurück und würde die Flugbahn der Erde kreuzen.

An diesem verhängnisvollen Tag, als kopflose Panik um sich griff, als die Plünderungen anfingen und Recht und Gesetz außer Kraft gesetzt schienen, das war der Tag, an dem Amy mir von ihrer Schwangerschaft erzählte. Sie war bereits im zweiten Monat. Und uns blieben vierzehn Wochen, ganze vierzehn Wochen. Keine hundert Tage.

Wir weinten lange.

Die Regierungen der Erde hatten sich lange überlegt – nicht ohne Grund – wann sie der Bevölkerung die Nachricht der kommenden Apokalypse mitteilen wollten. Wie sagte man, dass alles zu Ende ging? Dass die Menschheit am Ende ihrer Existenz angekommen war und alles Leben vernichtet werden würde? Was beinahe ein Witz war, waren wir doch auf dem besten Wege, das selbst zu erledigen. Sie taten es wie immer: Expertengeschwafel, das niemand verstand, Beruhigungen, die niemand ernst nahm, der Aufruf zu Moral und Anstand in diesen unseren letzten Tagen.

Keiner hörte auf sie.

Anarchie machte sich breit. Religiöse Eiferer fanden millionenfachen Zulauf. Weltuntergangs-Sekten predigten den kollektiven Selbstmord. Der Papst in Rom hielt täglich Messen vor unüberschaubaren Mengen von Gläubigen. Es herrschte Chaos und Verzweiflung allerorten. Morde und Verbrechen, die nicht verfolgt und gesühnt wurden, waren an der Tagesordnung. Raub, Plünderungen – jeder schien sich mit habgieriger Berechtigung noch nehmen zu wollen, was ihm das Leben bisher versagt hatte. Aber es gab auch Menschen, die alles gaben, was sie besaßen. Ihre Mildtätigkeit ging jedoch in der herrschenden Panik und dem allgemeinen Zerfleischen unbemerkt unter.

Nur bei uns, bei Amy und mir, blieb es friedlich. Noch immer erscheint mir unser kleines Haus als der ruhende Pol in all der Verwirrung und Zerstörung. Von unserer Veranda aus konnten wir die Rauchsäulen sehen, schwarz und gallig, die Städte wurden geplündert und brannten. Der scharfe Geruch der Feuer und des Todes wurde vom Wind herangetragen und wieder weggeweht. Das Jaulen der Sirenen, zunächst allgegenwärtig, verstummte mehr und mehr. Das Blitzen der Streifenlichter erlosch klaglos. Wir gingen nicht mehr zur Arbeit oder zur Uni, niemand tat das.

Trotzdem erhielten wir uns einen beinahe normalen Tagesablauf. Wir schliefen lange, liebten uns sanft und warm, immer versunken im Atem und den Augen des Anderen. Die Tage waren gemächlich, ruhig. So fern der herrschenden Aufregung, aber von einer stillen Verzweiflung erfüllt. Die Abende verbrachten wir auf unserer Veranda, tranken Wein, hielten uns an den Händen. Manchmal kam unser Nachbar Steve mit seinem Hund vorbei und wir tranken Bier und redeten. Irgendwann ging das Bier aus, die Vorräte gingen zur Neige, und einmal mehr waren wir froh um unseren kleinen Garten. Wenn Amy und ich schliefen, dann Seite an Seite. Und wenn wir wachten, suchten wir die körperliche Nähe des Anderen. Immer. Wir waren bis um Tag des Jüngsten Gerichts nie getrennt.

Amys Schwangerschaft schritt voran, ihr Bauch wuchs. Und die schönste Erinnerung, die ich – wohin auch immer – mitnehmen werde, ist die, als ich zum ersten Mal spürte, wie sich das Kind in ihr bewegte. Wir lächelten still und bitter über dieses Wunder. Etwas in mir zerbrach. An diesem Abend ging ich hinaus und schrie gegen die unabwendbare Ungerechtigkeit an. Das war das einzige Mal, dass die Verzweiflung der Welt zu uns durchdrang und mich überrollte. Ich schrie und brüllte, bis ich heißer war und schließlich erschöpft unter dem Apfelbaum auf den Knien lag. Amy war es, die mich an der Schulter sanft berührte und mich an den Händen zurück zu unserem Haus brachte. Immer war sie es, die ruhig blieb, und die es ablehnte, über einen Namen für das Kind nachzudenken. Die Nacht war voller Tränen.

Dann war es soweit.

Erebos kam fauchend. Erebos kam jaulend. Erebos hatte sein Schweigen aufgegeben. Amy und ich konnten, wie der Rest der Welt, seine Flugbahn beobachten. Schillernd und rauchig. Sein Schatten wischte mit kalten Fingern über unsere nach oben gewandten Gesichter. Es bestand eine absolut winzige Chance, dass Erebos uns verfehlen würde und sich stattdessen auf unseren Gefährten, der uns seit Jahrmillionen begleitete, stürzen würde. Den Mond. Wir standen auf der Veranda, hielten uns in den Armen. Der Mond, unser Mond, Luna, war über dem Horizont weiß und unschuldig aufgegangen. Ahnungslos. Er begab sich lautlos und freundlich auf seine nächtliche Spur. Dann zischte Erebos heran. Glühend und brennend und brüllend. Mit voller Wucht erschlug er den Mond, der unter der gewaltigen Masse von Erebos ergeben zitterte und dann in einer staubigen, trockenen und absolut stillen Sandwolke zerbrach. Und dessen Bruchstücke dann auf die Erde zurasten.

Der Aufschrei der Menschheit, so laut und hysterisch, endete abrupt, als die ersten Brocken, glühend und berstend, auf die Erde stürzten. Die Atmosphäre der Erde, unsere letzte Bastion, konnte sie nicht aufhalten. Die Erde erzitterte bis in ihre Grundfesten. Amy und ich konnten dieses Vibrieren, das sich mehr und mehr verstärkte, durch unsere Schuhsohlen spüren. Instinktiv klammerten wir uns aneinander, hielten unsere Blicke verschränkt. Weinten. Dann stürzte das größte Bruchstück des Mondes auf die Erde. Harsch und fetzend fuhren seine Kanten über die Ausläufer der Ostküste Amerikas, zogen eine kilometertiefe Furche, und brachten die ganze Welt ins Schlingern. Ja, rissen sie aus ihren Angeln. Wie eine Flipperkugel wurde der Mond abgestoßen und raste weiter in Richtung Unendlichkeit. Nicht, dass das noch jemanden interessiert hätte.

Unsere Welt, unsere alte Erde, war tödlich getroffen. Der gewaltige Schlag des Mondes hatte die Erde tief gespalten und aufgerissen. Die Wasser der Meere schossen in die Kluft und verdampften augenblicklich, als sie auf den heißen Erdkern stießen. Gewaltsam wurde die Erde auseinandergerissen. Der Donner, das Beben, die schreiende, reißende Kraft, noch heute dröhnt es mir in den Ohren. Alles schwankte, alles versank. Und das war der Moment, als ich Amy verlor. Unsere Veranda zersplitterte, das ganze Haus wurde wie von einer riesigen Faust gepackt und zerdrückt. Ich weiß noch, dass ich mit dem Gesicht voran auf den Boden schlug, die Arme noch immer rudernd, um Amy zu finden, Amy, Amy, Amy. Dann wurde alles schwarz. So finster wie Erebos selbst.

Ich sitze nur hier. Gestrandet. Auf einer Insel aus Stein und Geröll, die es eigentlich so nicht geben dürfte. Mit dem Apfelbaum, der wie ein gefällter Riese auf der Seite liegt. Der Hund des Nachbarn ist bei mir, Jasper, zwei Hühner und ein aufgebrachter Kater. Das ist der klägliche Rest des Lebens auf der Erde. Und es ist eine beinahe lachhafte Ironie des Schicksals, dass das Morden und Zerfleischen nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. Alle haben Hunger. Meine Worte schreibe ich auf die Seiten eines zerfledderten Schulheftes, das ich aus den Trümmern unseres Hauses geborgen habe. Der Bleistift ist stumpf.

Es ist meine Insel, der ich genauso wenig einen Namen geben kann wie unserem Kind, da beides ohne Hoffnung war und ist. Sie driftet torkelnd durch die Milchstraße, mit einer Atmosphäre, die mir wie eine flüchtige Blase erscheint. Ich friere. Die Sonne ist weit weg. Und ich weiß nicht, wann diese Frist hier endet und ob es eine Gnade ist, dass ich noch lebe. Ich glaube nicht.

Wenn ich nach oben schaue, sehe ich die Sterne. Anders als bisher, aus einem anderen Blickwinkel. Und Dinge, die noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat. Mit Worten von Ingeborg Bachmann werde ich der Menschheit ein endgültiges Lebewohl sagen:

 

Es ist Feuer unter der Erde

und das Feuer ist rein.

Es ist Feuer unter der Erde

und flüssiger Stein.

 

Es ist ein Strom unter der Erde,

der strömt in uns ein.

Es ist ein Strom unter der Erde,

der sengt das Gebein.

 

Es kommt ein großes Feuer

es kommt ein Strom über die Erde,

Wir werden Zeugen sein.

 

Nein – ich war der Zeuge. Namenlos und allein.