Verlorene Seelen

von Christa Maria Buß

 

„Der Mann wurde mit einem Eiszapfen erstochen.“

Gerd sah sich nach Paul um.

„Das ist ein Witz, oder?“

Paul schnaubte: „Ganz sicher nicht. Er liegt in seinem Wohnzimmer und starrt an die Decke. Das Loch in seiner Brust hat fünf Zentimeter im Durchmesser, die Haut darum ist zerfetzt, die Wunde mit Wasser gefüllt. Auch auf dem Boden befindet sich Wasser. Lisa ist überzeugt, dass es ein Eiszapfen gewesen sein muss.“

„Und daher gibt es keine Tatwaffe und keine Fingerabdrücke“, folgerte Gerd und empfand Bedauern. Dann würde es schwierig werden. Er schüttelte den Kopf. Wer brachte im Sommer jemanden mit einem Eiszapfen um? Auch wenn es hirnrissig war, Lisa irrte sich so gut wie nie. Sie war eine der Besten in ihrem Fach.

Gerd ging die wenigen Stufen zur Wohnung hinauf. Überall waren die Leute der Spurensicherung in ihren weißen Papieranzügen zu Gange. Hans nickte grüßend, als Gerd an ihm vorbeiging. Er puderte den Türrahmen der Eingangstür, um etwaige Fingerabdrücke zu finden. Gerd warf einen kurzen Blick auf das Holz und stöhnte innerlich. Unzählige Fingerabdrücke waren darauf zu sehen. Das würde eine Menge Arbeit machen, sie alle zu identifizieren.

Als er ins Wohnzimmer trat, kniete Lisa, ebenfalls in einem Schutzanzug, neben der Leiche. Sie nahm Proben des Wassers, das sich blutig um den Toten gesammelt hatte. Akribisch. Konzentriert. Sie sah nicht einmal auf. Klaus machte noch Fotos aus allen Richtungen und das pfeifende Laden des Blitzgerätes und das Klicken des Kameraverschlusses waren lange die einzigen Geräusche.

Gerd stellte sich neben die Tür und ließ den Raum auf sich wirken. Das tat er immer, seine Kollegen kannten es nicht anders von ihm und ließen ihn in diesen Momenten in Ruhe.

So stand er da. Die Hand wie üblich im Rücken zwischen sich und der Wand. Er sah sich jedoch nicht um. Sah den Toten nicht an, der bereits anfing zu stinken. Faulig und dumpf. Sah nicht zum Fenster, das jemand gottlob geöffnete hatte. Er sah auch nicht die Einrichtung, die Möbel, oder das ganze Umfeld.

Gerd sah nach innen. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf seine Hand, die bereits warm wurde und schon in Kontakt stand. Er fragte Lisa kurz: „Wann?“ und sie antwortete ebenso knapp: „Vor ca. 12 Stunden. Das Eis ist längst geschmolzen, das Wasser um den Toten hat bereits Raumtemperatur.“

Gerd nickte.

Versank.

Die Farbe auf der Tapete war weiß und noch jung und frisch, sie erzählte ihm nicht viel. Die Fasern darunter jedoch schon älter und sie sprangen sofort auf Gerds Suchen an. Er neigte den Kopf, horchte auf das Wispern. Leise und kaum zu hören. Ein Rascheln ließ ihn den Kopf zur Seite drehen und da wusste er, wohin. Er nahm seine andere Hand und legte sie neben sich auf den Türrahmen. Augenblicklich zuckte er zurück, als ob er sich verbrannt hätte. Er bemerkte nebenbei, dass Lisa kurz hochsah, sich dann aber wieder an der Leiche zu schaffen machte.

Langsam, behutsam und bedacht, streiften seine Finger über das Holz des Türrahmes. Er war zu schnell gewesen und hatte sie erschreckt. Nun jedoch näherte er sich friedvoll, dachte an die Zeit, die vergangen sein musste, seit der Mord passiert war.

Ein Raunen, ein Klagen, Weinen der erschütterndsten Art und Weise. Gerd nahm seine Hand zurück und war kurz verwirrt. Woher kam diese Trauer? Allumfassend und ohne jede Möglichkeit, getröstet zu werden. Und darunter – Wut. Etwas, das so gut wie nie vorhanden war.

Gerd sah sich nun doch um. „Wie hieß der Tote?“, fragte er tonlos. Er wollte die Seite, auf die er gewechselt hatte, nicht ganz verlassen. Es wäre schwierig, zurückzukehren, nun, da sie geweckt waren.

„Meinrad Klotz, unverheiratet. Lebte hier allein. Zumindest die meiste Zeit. Er soll ein Weiberheld der ganz schlimmen Sorte gewesen sein. So meinte zumindest sein Nachbar. Wir prüfen das noch. Sein Handy ist gesperrt und muss erst geknackt werden.“ Klaus hatte im Hinausgehen geantwortet, die Augen auf seinen Notizen. Gut. Dann war nur noch Lisa hier, und auch sie konnte er wegschicken. Er sollte sie wegschicken.

„Lisa“, seine Stimme war rau. „Kannst du mich kurz allein lassen?“

Lisa sah ihn fragend an, kannte aber ebenso wie alle anderen seine seltsame Marotte und erhob sich. Sie packte ihre Proben und ging hinaus, ohne eingeschnappt zu sein. Aber sie bedachte ihn noch mit einem Blick, den er nicht deuten konnte und hatte auch nicht die Zeit, darüber nachzudenken.

Gerd schloss die Tür.

Dann drehte er sich in Richtung Zimmer und legte seine Hände hinter sich an den Türrahmen. Er schloss die Augen, versank und horchte. Als die Haut seiner Hände das Holz berührte, fühlte es sich kalt an. Eiskalt. Und als er die Augen wieder öffnete, sah er sogar, wie sein Atem dampfend vor ihm stand. Trotz der Wärme des Sommertages.

Dann fuhr er zusammen. Das Weinen, jetzt überlaut und heulend, schreiend und voller Not, überrannte alle seine Sinne. Er keuchte und wieder sah er seinen Atem. Mit Gewalt musste er sich davon abhalten, seine Hände zu lösen und sich damit die Ohren zuzuhalten. Denn dann wäre der Kontakt unterbrochen. So hielt er es aus, auch wenn er glaubte, nach dieser Sache nie wieder etwas anderes hören zu können.

Die Zeit.

Er musste den Zeitpunkt finden, an dem der Mord geschehen war. Er sah hoch, gepeinigt ob der Qual, die seinen Ohren zusetzte. Blinzelte. Konzentrierte sich auf die letzten zwölf Stunden. Dass er Erfolg hatte, sah er daran, dass sich das Zimmer verdunkelte, die Sonne unterging, und die Nacht dämmrig und silbern anbrach. Ein kühler Nachtwind wehte zum offenen Fenster herein und mit ihm kam der Mörder.

Gerd presste sich dicht an die Wand. Wie immer war er der irrigen Annahme, dass der Täter ihn sehen konnte. Aber er war im Strudel der Zeit, geschützt von den Seelen, die allen Dingen innewohnte. Sie waren es, die zu ihm sprachen. Die ihm erzählten, die ihm zuraunten, die immer und überall zugegen waren.

Die Seelen der Dinge.

Und er hörte ihnen zu.

Er sah, wie der Mord geschah. Er hörte jedoch nichts außer dem Klagen der Seelen. Er hörte nie etwas, nur diese Stimmen. Wer war dieser Meinrad Klotz, dass sie so aufgebracht waren?

Es gab keinen Streit. Nein. Meinrad Klotz kam aus der Küche und hatte ein Glas mit Saft in der Hand. Eiswürfel schwammen darin, und Gerd hörte im Geiste, wie sie wohl klirrend an das Glas schlugen. Der Mörder stand bereits am Fenster, dort, wo es am dunkelsten war. Er war klein, finster gekleidet, und vermummt mit einer Skimaske über dem Gesicht. Gerd hatte den Eindruck, dass seine Umrisse weibliche Formen hatten, aber sicher war er sich nicht. Dann trat der Mörder vor, die Hände erhoben und darin der Eiszapfen. Einen halben Meter lang und offensichtlich nur für diese Tat geschaffen. Kurz fing sich das Licht der Straßenlaternen auf dem Eis.

Mit einem schnellen, präzisen Hieb – anders würde das Eis wohl brechen – erstach der Täter Meinrad Klotz. Der Stich wurde mit einer Entschlossenheit ausgeführt, dass der Mann nicht einmal mehr reagieren konnte. Das Opfer fiel auf den Rücken, die Augen weit, das Eis schimmernd und durchsichtig aus seiner Brut ragend. Das Glas zerschellte am Boden, Saft spritzte, die Eiswürfel glitten lautlos über die Dielen.

Der Mörder beugte sich kurz über sein Opfer. Er vergewisserte sich mit einem Griff an die Halsschlagader, dass der Mann tot war, nickte befriedigt und richtete sich auf. Dann trat er noch einmal voller Genugtuung nach seinem Opfer und wandte sich zum Gehen.

Und da entfuhr Gerd nun doch ein Keuchen. Er kannte den Täter. Seine Bewegungen waren ihm vertraut.

Lisa!

Als ob sie ihn gehört hätte, sah sie in seine Richtung. Leicht verwirrt, mit gerunzelter Stirn. Dann jedoch sah sie weg und Gerd wäre beinahe an der Wand hinab gesunken.

Lisa verschwand durch das Fenster, wie sie gekommen war. Leicht, behände. Sie hatte keine Spuren hinterlassen. Keine Fingerabdrücke und keine Tatwaffe, die forensisch hätte untersucht werden können.

Gerds Atem kam stoßweise und nun ging er doch in die Knie. Er stöhnte und fuhr sich mit einer Hand an die Kehle, in der Galle bitter und brennend nach oben stieg. Seine Wahrnehmung erfasste wieder das helle Zimmer, aber noch stand er unter dem Schock des Gesehenen. Endlich verstand er. Deshalb das Weinen, deshalb die Not der Seelen, die unendliche Trauer. Der Mörder war hier!

Das Schreien gellte ihm immer noch in den Ohren.

Als Gerd die Augen aufschlug, lag das Zimmer wieder in sommerlichem Licht. Vor ihm hockte Lisa mit scheinbar besorgter Miene. Wann hatte sie sich zu ihm gesetzt?

„Du!“, stieß er hervor. „Du bist es gewesen. Warum?“

Lisa zuckte nicht einmal zusammen. Sie veränderte nur kurz ihre Position und lehnte sich auf die Fersen zurück.

„Er war ein Schwein, mehr brauchst du nicht zu wissen“, schnaubte sie verächtlich. Dann beugte sie sich vor und als sie weitersprach, gefror Gerd das Blut in den Adern.

„Du wirst nichts sagen, mein Freund. Denn sonst erzähle ich allen, dass du verrückt bist. Durchgedreht. Die vielen Morde müssen dich um den Verstand gebracht haben.“

„Was … was meinst du?“

„Glaubst du denn, ich bin so dumm zu glauben, dass du nur deshalb der beste Kommissar bist, weil du so ein unglaubliches Gespür hast? Der nur nach der Waffe zu greifen braucht, um zu wissen, was geschehen ist?“ Sie lachte kurz und hart. Dann legte sie ihm ihre Hände auf die Schultern und drückte ihn an die Wand. Da er noch immer eine Hand um den Türrahmen krallte, konnte er ihre weiteren Worte kaum verstehen, weil das Schreien und Kreischen beinahe alles übertönte.

„Du wirst schweigen. Hörst du? Denn wenn nicht, werde ich dafür sorgen, dass du es tust. Das schwöre ich dir, bei allen verdammten Seelen.“

Gerd zuckte zusammen, als sie die Seelen erwähnte und wollte an einen Zufall glauben, weil sie gerade den Ausdruck benutzt hatte, mit dem er den Stimmen einen Namen gab.

Lisa sah und spürte sein Zurückweichen. Jetzt kam sie ganz nah an ihn heran und er konnte sogar ihren schalen Atem riechen.

„Sei dir dessen bewusst, dass ich sie auch hören kann. Diese Stimmen, die mir sagen, wo ich suchen soll und wie der Ermordete umgekommen ist. Die verlorenen Seelen.“ Lisa stand auf und reichte ihm die Hand. Gerd sah fassungslos darauf und dann wieder zu ihr hoch. Er verstand nicht.

„Wir sollten uns zusammentun.“