Eine Flocke Finsternis

Eine Flocke Finsternis

                                                          

„Bist du sicher, dass du das tun willst?“ Ich nahm Mia an den Händen. „Denn wenn nicht: ich weiß einen Ausgang, an den ganzen Gästen vorbei. Niemand wird uns aufhalten. Du brauchst nur ein Wort zu sagen.“

Mia lächelte, erwiderte den Druck meiner Hände. Sie strahlte, sie schwebte, sie würde heute meinen besten Freund Jens heiraten. Meine elfenhafte kleine Schwester mit den unzähligen Sommersprossen. Das Kupfer ihres Haares lag heute gebändigt und straff an ihrem eigensinnigen Kopf.

„Mark …“, ihre Stimme war sanft. „Ich liebe Jens, das weißt du. Schon seit dem ersten Tag, als du ihn mit nach Hause gebracht hast.“

„Den Tag bereue ich, ich schwöre!“

Mia lachte. „Das glaube ich dir aufs Wort.“ Sie wurde ernst. „Ich weiß, warum du hier den Beschützer rauskehrst. Seit Mama und Papa gestorben sind, hast du über mich gewacht …“

„Aufgepasst!“

„Meinetwegen: Aufgepasst. Das musst du nicht mehr. Ich bin ein großes Mädchen und Jens wird noch mehr auf mich achten, als du.“

„Wenn er es nicht tut, bring ich ihn um.“

Sie schlug mir auf den Arm. „Du hast ihm das schon angedroht, ich weiß.“

„Das hat er dir erzählt? Seine Zukunft wird rabenschwarz sein.“ Ich strich ihr eine nicht vorhandene Strähne aus der Stirn. „Und jetzt schleppt er dich nach Nepal. Ich kanns nicht glauben. Wenn dir etwas geschieht …“

„Das wird es nicht.“

„Du bist dir da so sicher. Jens …“, ich fuhr mir über die Stirn. „Jens war schon immer ein Draufgänger. Schneller, weiter, höher. Sein Kurs geht immer nur nach oben.“

„Und genau das liebe ich an ihm. Er könnte die Welt aus den Angeln heben …“

„Wenn er sie dir nicht zu Füßen legt, ist er ein toter Mann.“ Ich seufzte. „Hätte es nicht ein Hotel unter Palmen sein können? Türkisblaues Meer, Cocktails, Angestellte, die mit ihrer Eilfertigkeit lästig werden und …“

„Ansonsten nur Jens und ich? Wir würden sterben vor Langeweile. Nein, Mark, es ist gut so, wie es ist.“

„Aber muss es denn gleich der Mount Everest sein? Ihr habt das ganze Leben vor euch. Höher könnt ihr nicht mehr hinaus. Ihr werdet euch den Rest eures Lebens angähnen.“

„Das glaubst du doch selbst nicht.“ Mia drehte sich weg und griff nach ihrem Schleier. „Steckst du ihn mir fest?“

„Ich? Was wird Claudia dazu sagen?“

„Claudia ist meine Trauzeugin, das ist Ehre genug. Nein, Mark, ich möchte, dass du das für mich tust. Sei mir heute Mama und Papa und Bruder gleichzeitig.“ Sie stockte, sah mich eindringlich an, eine Träne löste sich. Das helle Blau ihrer Augen verlor gerade etwas von seinem Strahlen. Ich schluckte und nahm sie in den Arm. Wiegte uns. Sog ihren warmen Duft ein, der für mich immer nach Vanille und Erdbeeren riechen würde. War froh, dass sie jetzt mein Gesicht nicht sehen konnte.

„Mark?“

„Hmm?“

„Mark, du musst mich loslassen.“

„Niemals, Mia, niemals.“ Widerstrebend löste ich meinem packenden Griff und schob Mia auf Armeslänge von mir, lächelte bitter. „Du weißt, was du tust?“

Mia lehnte sich an mich, überwand die Distanz meiner Armlänge mühelos. „Ja, Mark. Freu dich mit mir. Es wartet ein überwältigendes Leben auf mich.“

 

Jens verlor am Mount Everest seine Hände, seine Nase und das Leben meiner geliebten Schwester. Mia kehrte nicht aus Nepal zurück.

Ich brauchte ein Jahr, um eine Genehmigung für die Ersteigung zu bekommen und mich fit zu machen. Dann stieg ich hinauf. Allein.

Mia. Alles an ihr war unversehrt. Mit sanfter, liebender Hand wischte ich Frost von ihrem schlafenden Gesicht. Das strahlende Licht des indigoblauen Himmels ließ einen hauchzarten Schatten auf ihrem Gesicht erscheinen. Durchscheinend, von zarter Weichheit, wie eine Flocke Finsternis, die herabgetaumelt war, damit sie nicht alleine war.

Eine Flocke Finsternis