Der dreizehnte Wunsch

„Denk dran, Jonas, du musst deine Wünsche noch schreiben.“

Mara stand in der Küchentür, die Hände an einem Geschirrtuch abreibend, und sah mich beinahe strafend an.

Ich nickte nur, sah nicht einmal auf von meiner Lektüre. Erst als ich wusste, dass Mara wieder in der Küche verschwunden war, sah ich hoch. Mein Mund war hart, ich presste die Kiefer aufeinander.

Meine Wünsche. Ich schnaubte. Wen interessierten meine Wünsche? Wer hatte auch nur das geringste Interesse daran, was ich wollte oder mir wünschte?

Ich lehnte mich zurück und sah gedankenverloren zum Weihnachtbaum, den wir heute in mühsamer Kleinarbeit aufgestellt und geschmückt hatten. Wenn ich an den Streit dachte, der sich langsam angebahnt hatte, dann aufbrach mit lautem Geschrei von Seiten Maras und geknurrten Kommentaren meinerseits, dann hatte ich im Grunde nur den einen Wunsch: ein Weihnachten, das mal nicht von Besuchen von Maras leidiger Verwandtschaft und Essen bis zur Schmerzgrenze bestimmt war. Nein, ein ruhiges Weihnachten, mit gutem Essen, netten Gesprächen und ohne Hetze und Druck. Ein Buch lesen, ein Glas Wein. Ruhe.

Das Scheppern aus der Küche holte mich aus meinen frevlerischen Gedanken. Ich schüttelte den Kopf. Meine Wünsche waren hier ebenso wenig gefragt, wie Ausschlag am Hintern.

Da kam mir ein Gedanke. Meine Wünsche. Wenn sich sonst niemand für meine Träume und Sehnsüchte interessierte, vielleicht würde Wotans Wilde Jagd sie ja beachten. Und wenn nicht? Dann hatte ich sie eben in den Wind geschrieben – wortwörtlich.

Die Raunächte. Jene mystischen 12 Nächte zwischen Weihnachten und Dreikönig. Mara hatte aufgebracht, dass wir unsere Gedanken und Wünsche auf dreizehn Papiere schrieben. Jede Nacht würden wir einen dieser Zettel, ohne zu lesen, was darauf stand, im Freien verbrennen. Sie sozusagen den Elementen übergaben. Feuer, Luft, Asche auf der Erde. Da war mir Wotans Wilde Jagd lieber, der mit seinem Gefolge nächtens durch die Lüfte fegte und unsere Träume mitnahm.

Nur den letzten Zettel der übrig blieb, sollten wir lesen. Und uns dann selbst im folgenden Jahr um diesen Wunsch kümmern.

Plötzlich wusste ich, was ich mir wünschte. Mit erstaunlicher Hast zupfte ich die Zettel vom Block und schrieb. Wild, von einer plötzlichen Dringlichkeit erfüllt, meine Schrift wurde unleserlich. Jetzt lachte ich sogar. Wotan würde schon lesen können, was ich aufschrieb. Dann – mit einer erschöpften Ruhe – legte ich schließlich den Stift beiseite, griff nach dem Weinglas und betrachtete den Papierhaufen vor mir. Ich weiß, dass ich gelächelt habe.

Weihnachten kam wie erwartet gehetzt und voll falscher Familienbande. Mara zog auf der Heimfahrt über ihre Schwägerin her und betitelte die Kinder ihres Bruders als anstrengend und völlig verzogen.

Ich selbst blieb ruhig. Das Aufschreiben der Wünsche hatte mich in einen seligen Zustand versetzt. Es hatte meinem Inneren gut getan, jemandem meine Bedürfnisse mitzuteilen. Auch wenn Wotan selbst darauf wohl pfeifen würde.

Die Tage zwischen den Jahren. Fett, träge. Weiterer Besuch, genauso schlimm wie erwartet. Silvester feierten wir bei Bernd und Claudia, die ihren Hund wegen der Silvesterknallerei nicht allein lassen konnten. Die Frauen waren betrunken, Bernd schimpfte auf den Krach und der Hund pisste in die Küche.

Die Tage zwischen Neujahr und Dreikönig. Mara hatte Urlaub, ich nicht. Es fiel mir nicht schwer, arbeiten zu gehen. In diesen Tagen lief im Geschäft alles etwas langsamer, weil die halbe Welt Urlaub hatte.

Dreikönig. Mara und ich hatten die vergangenen 12 Nächte immer einen der Zettel gezogen und im Hof verbrannt. Einmal blies der Wind so stark, dass ich befürchtete, das glimmende Papier würde das Nachbarhaus in Brand stecken. Zweimal hatten wir Probleme weil es regnete, und wir schützend die Hände um den Teller legen mussten. Als ich Maras Gesicht im sanften Schein der blakenden Flamme betrachtete, kam mir der Gedanke, dass ich diese Frau einmal geliebt hatte. Ihr Mund war dünner geworden, die Augen hatte sie konzentriert auf die Flamme gerichtet. Das sanfte Licht verlieh ihrem Gesicht einen weichen Schimmer, unverbraucht und nicht abgehärtet. In diesem Moment fragte ich mich, was sie wohl auf ihre Zettel geschrieben hatte, welche Wünsche sie den Elementen mit auf den Weg gab. Ich musste mir eingestehen, dass ich von ihren Sehnsüchten keinen blassen Schimmer hatte.

Der Wind nahm die Asche des Papiers mit und damit den Zauber von Maras Antlitz.

Ich nahm meinen letzten verbliebenen Wunsch. Mara hatte sich mit ihrem ins Schlafzimmer zurückgezogen, sie wollte nicht, dass ich ihr Gesicht sah, wenn sie las.

Das Papier knisterte leise, meine Finger waren steif. Ich riss an dem Zettel, weil ich es plötzlich nicht mehr erwarten konnte, zu lesen, was das Universum mir aufgab.

„Ich wünsche mir in Ruhe gelassen zu werden. Ich will das hier nicht mehr.“

Ich sackte auf den Stuhl. Ausgerechnet dieser Wunsch war übriggeblieben. Der Schwerste von Allen. Mein Atem ging zitternd, weil die Aufgabe so überwältigend groß vor mir stand.

Als die Haustür ins Schloss fiel, sah ich überrascht hoch. Ich rief nach Mara und ging hinüber ins Schlafzimmer, als keine Antwort kam. Dort blieb ich kurz stehen, horchte, weil Maras Auto startete und wegfuhr. Was zum Teufel hatte sie vor?

Auf dem Bett lag Maras Zettel, ihr dreizehnter Wunsch.

„Ich will die Kraft haben, Jonas zu verlassen.“