Vierauge

 

„War das pädagogisch wertvoll, Lena ein Vierauge zu nennen? Du weißt doch, wie sehr sie die Brille hasst!“

„Ich bitte dich, Karin, die halbe Welt trägt eine Brille. Und du gehst mit Lena um, als sei sie nicht ganz bei Trost, nur weil sie die Brille nicht mag.“

Bis heute kann ich meine Eltern streiten hören. Etwas, das sie oft taten. Meine hässlich-grüne Brille war nur ein weiterer Anlass.

Ich drückte den neuen Plüschhasen Fips an mich, den Papa mir heute geschenkt hatte. Auch das Kuscheltier trug eine Brille – grün wie meine. Als er ihn mir schenkte, hätte der Trost nicht besser sein können. Endlich war ich nicht mehr die Einzige, die eine Brille tragen musste. Keiner in meiner Klasse musste eine tragen und der Spott hatte nicht lange auf sich warten lassen.

Papa fuhr morgen weg, Geschäfte. Als er sich am Abend verabschiedete, küsste er mich und Fips warm auf die Stirn. Dabei nannte er uns Vierauge und lächelte, wie nur er es konnte.

Als er von seiner Reise zurückkam, brachte er mir einen weiteren Hasen mit – ebenso mit grüner Brille – und schwor, dass er diesen in Hongkong genauso vorgefunden hätte. „Überall auf der Welt gibt es Vieraugen, mein Schatz.“ Papa lächelte. „Ich werde es dir beweisen. Du wirst nirgends allein sein.“

Damit traf er den wunden Punkt meiner Seele. Ich hatte wenig Freunde und zog mich wegen der Scheidung meiner Eltern noch mehr zurück. Papa ging noch öfter auf Reisen als früher. Aber er kehrte immer zu mir zurück. Mein Papa. Jedes Mal brachte er mir einen Hasen mit, der eine Brille trug, und nannte uns Vierauge.

Dieses Wort war unseres: Vierauge. Auch er trug mittlerweile eine Brille und wir foppten uns gegenseitig.

Im Laufe der Jahre kamen Hasen aller Farben und aus aller Herrenländer hinzu. Ein ganz Weißer, den ich Flocke nannte, kam aus Reykjavik. Sie alle hatten grüne Brillen, auch wenn ich mit fünfzehn anfing, Kontaktlinsen zu tragen. Trotzdem hätte ich es Papa übelgenommen, wenn er mir einen Hasen ohne Brille mitgebracht hätte. Einträchtig saßen meine kurzsichtigen Lieblinge in meinem Zimmer. Eine seltsame Ansammlung. Aber zwischen meinen bebrillten Kameraden konnte auch ich seltsam sein. Wir alle waren Vieraugen.

Doch dann kehrte Papa von einer seiner Reisen nicht mehr zurück. Autounfall. Er soll sofort tot gewesen sein.

Die Nachricht traf mich am Abend meiner Abifeier. Papa hatte versprochen, dabei zu sein, auch wenn Mama es gerne anders gehabt hätte. Alles wurde nichtig.

Ich konnte nicht weinen. Aber ich saß zwischen meinen Hasen mit den grünen Brillen, strich jedem über das abgewetzte Plüschfell – immer hektischer – und hoffte noch immer, dass alles ein Irrtum war.

Eine Woche nach der Beerdigung mussten Mama und ich die Wohnung von Papa auflösen. Meine Mutter fing in der Küche an. Ich verschwand im Schlafzimmer. Dort stand ich mit hängenden Schultern und öffnete schließlich den Schrank. Seufzte bei all den Hemden und Pullovern, schnupperte daran, weil sie noch immer nach Papa rochen und hockte schließlich am Boden des Schrankes und bekam keine Luft mehr. Neben mir eine Schachtel, die in die Ecke geschoben war. Ich hob den Deckel.

Brillen. Grün und hässlich. Mehrere Dutzend, so kam es mir vor. Und darauf lag ein kleiner Hase mit einem Zettel am Halsband.

„Meine liebe Lena, alles Liebe zum bestandenen Abitur. Dieser kleine Hase ist der Letzte, den ich Dir schenke, weil Du Dich nun ins Leben aufmachst und selbst nach ihnen suchen kannst. Du bist ein wunderbarer Mensch, Vierauge, und mein größter Schatz – Papa.“

Da erst konnte ich weinen.