Blankgezogen

 

„Sieh dir das an, Marga, es werden immer mehr.“ Luise zeigte mit ihrem Stock auf die Spur der bunt bemalten Steine entlang des Weges. Einer am anderen, eine schlängelnde Linie aus Farben und Worten. Der Versuch, andere Leute zu grüßen, weil man sich nicht mehr nahe kommen durfte.

Margarete und Luise bückten sich und besahen sich die ausgelegten Steine näher. Fische in Häkelhemden, Eulenfamilien, bebrillte Hasen, und jede Menge Sprüche und liebe Wünsche. Dann – Bart Simpson.

„Corona ist ein Arsch.“, stand da und der freche Bart ließ seine Hosen herunter, um dem Virus seine Geringschätzung mit Körpereinsatz zu demonstrieren.

Margarete stockte, als sie den Stein sah. Die Welt war aus allen Fugen, das Virus allgegenwärtig, morgen war ihr Geburtstag, der einsamer als je zuvor werden würde – und nun dieser blanke Hintern.

Margarete lachte.

Bis ihr Tränen die Wangen hinabliefen.

„Egal, was man von dem gelben Kerl hält, dieses Mal hat er auf jeden Fall recht“, meinte Luise und rückte den herrlich anstößigen Stein mit ihrem Stock zurecht.

„Mir gefällt er außerordentlich“, antwortete Margarte und wischte sich die Tränen von der Wange. „Glaubst du, man darf ihn mitnehmen?“

Luise sah den Weg hinauf und hinab. „Zu viele Leute.“ Sie seufzte. „Und mitnehmen ist auch nicht Sinn der Sache.“

„Schade. Wirklich, schade.“

 

Margarete wartete. Im Dunkeln. Hinter der Haustür. Den Stock in der einen, die Taschenlampe in der anderen Hand. Ihre Kleidung war schwarz.

Margarete hatte eine Mission.

Die Kirchturmuhr schlug halb zwölf, als sie vorsichtig die Tür öffnete und hinauslinste. Niemand unterwegs. Wie auch? Ausgangssperre. Alle waren daheim eingesperrt.

Ihre Schritte schienen ihr deshalb umso lauter. Sie huschte, soweit es ihre alten Knochen zuließen, über die Straße und erreichte den Weg am Kanal entlang ungesehen. Der Kies des Weges knirschte unter ihren Sohlen. Sie machte noch kein Licht, die Steineschlange fing erst weiter hinten an.

Die Luft war kalt, Margarete konnte ihren Atem vor dem Gesicht sehen. Sie zählte die Trauerweiden, nach der sechsten auf der rechten Seite war es nicht mehr weit. Noch einmal sah sie sich um, horchte, bevor sie die Taschenlampe anknipste. Dann ging sie gebeugt an der Steinreihe entlang, wunderte sich erneut, mit welcher Hingabe und Kreativität hier kleine Kunstwerke geschaffen worden waren. Lächelte bei dem Hemdfisch und tätschelte dem Eulenvater sogar den Kopf. Dann …

Der Strahl einer Taschenlampe traf sie überraschend und blendend.

„Margarete Theresia Teichmann, ich bin entsetzt!“

Margarete hob abschirmend die Hand. „Luise! Verflixt, hast du mich erschreckt! Meine Güte, mir ist das Herz stehen geblieben!“

„Was tust du zu dieser nachtschlafenden Zeit hier draußen?“ Luise nahm das Licht herunter. Jetzt erkannte Margarete, dass auch Luise sich finster gekleidet hatte.

„Wohl das Gleiche wie du!“ Margarte sah nach unten. „Hast du ihn schon gefunden?“

„Klar doch.“ Luise zog den Bart Simpson-Stein aus ihrer Tasche. „Du wirst alt, meine Liebe, ich war eindeutig schneller.“

Die Turmuhr schlug Mitternacht.

„Alles Gute zum Geburtstag!“ Luise reichte Margarte den warmen Stein. „Den stellst du morgen auf den Kaffeetisch. Egal, wer kommt, wird darüber lachen können.“

Margarte grinste. „Genau. Corona ist aber auch ein Arsch.“

„Worauf du einen lassen kannst!“