Diva

                                                          

Sie hatte ein Kleid an. Ein Weißes. Weit schwingender Rock, ab der Taille eng am Körper liegend, Wasserfallausschnitt, der nichts versteckte aber auch nicht zu viel preisgab.

Die Reinheit des Weiß war versaut mit roten Spritzern, Klecksen, der ganze Saum hatte sich vollgesogen mit Blut. Mich wunderte, warum es rot blieb und nicht zu brauner Anklage gerann.

Sie saß bewegungslos im Verhörzimmer. Das Gesicht und alles andere, das blutbesudelt gewesen war, gewaschen, das Makeup aufgefrischt, die platinblonden Haare frisch in Locken gebürstet. Sie zeigte keinerlei Regung, als ihr Pflichtverteidiger hineinging. Er stellte ihr wortlos einen Kaffeebecher hin und setzte sich geschäftsmäßig neben sie. Packte einen blauen Hefter aus, sein Handy, stellte die Aktentasche neben sich auf den Boden. Musterte sie kurz und wartete dann mit verschränkten Händen.

Sie reagierte nicht.

„Sie sieht aus wie Marylin Monroe.“

Ich zuckte zusammen, als Henry neben mich trat.  „Stimmt. Das war ihr Auftritt. „Marylin und die verbotenen Früchte“. Ich drehte mich um. „Damit war Kennedy gemeint.“

„Ich weiß“, Henry trat nah an den Beobachtungspiegel. „Julia liegt mit schon seit Wochen in den Ohren, dass wir in dieses Stück gehen sollen.“

„Damit hat es sich jetzt erledigt. Die Hauptdarstellerin fällt die nächste Zeit aus.“

„Sie hat noch nichts gesagt?“ Henry blickte in die dünne Akte. Blätterte.

„Ihr Name ist Leonor Liermann.“ Ich hatte den Namen schon so oft geflüstert. Leonor, Leonor, Leonor. Trotzdem leierte ich die Daten herunter. Mit einer atemlosen Gefühlskälte, die alles auf Abstand halten sollte. Es gelang mir nicht. „Kein Künstlername. 31 Jahre. Nicht verheiratet, keine Kinder. Schauspielerin mit … na ja … bisher wenig Erfolg.“

„Freund? Freundin? Überhaupt eine Beziehung?“

Ich zögerte. „Nicht, dass ich … steht nichts davon in der Akte.“ Mein Herz schlug mir bis zum Hals. „Das Stück war ein voller Erfolg, das Publikum, die Presse, alle waren begeistert. Sie war endlich dabei, Karriere zu machen.“

Henry schnaubte. „Das alles sagt herzlich wenig.“ Er sah wieder hinein zu ihr. „Und heute bringt sie vor dem begeisterten Publikum einen Mann um. Muss ein schockierender Anblick gewesen sein.“

„Den, der Kennedy gespielt hat.“ Ich drehte mich weg. Von ihr. „Bastian Berger. Er …“

Der Bastian Berger?“ Henry stöhnte. „Und ich Hornochse bin nicht hingegangen. Der Mann war der Held meiner Kindheit. Kommissar Julien, der Mann, der sie alle findet. Sags keinem weiter, aber seinetwegen bin ich zur Polizei gegangen.“

„Das ist doch jetzt kein Problem für dich.“

„Nein, John, da stehe ich drüber … denke ich. Es macht dir doch nichts aus, dass du Sam vertreten musst. Sein Kind kommt.“

Ich nickte müde. Dass ausgerechnet heute Sams Frau das Kind auf die Welt presste … Ich wäre nicht mal in der Nähe des Präsidiums, geschweige an diesem Verhör beteiligt gewesen. Aber jetzt war ich da. Bei ihr.

„Nein, lass uns gehen.“

Es war seltsam, den Raum zu betreten.

Die Luft roch leicht nach ihrem Parfüm. Chanel Nr. 5. Die wirkliche Marylin hatte es getragen.  Ihr Satz: „Zum Schlafen trage ich nur ein paar Tropfen Chanel Nº 5.“ fuhr mir durch den Kopf.

Ich kannte den Duft von Leonors Haut, wenn sie schlief.

Das Licht war schummrig, nur über dem Tisch hing tief eine Röhre, die kaltes, weißes Licht herabfallen ließ. Trotzdem schimmerte das blonde Haar in warmem, honigfarbenem Ton.

Ich wusste, wie weich es sich anfühlte und dass es ihre tatsächliche Haarfarbe war. Ich schloss meine Hand zu einer Faust und musste sie bewusst wieder öffnen.

Das Kleid. Eine Replik des Kleides, das Marylin in „Manche mögens heiß“ getragen hatte. Leonor passte es wie angegossen. Sie war Marylin. Sie lebte und liebte wie sie. War hungrig wie sie und immer auf der Suche nach versagter Bestätigung. Auf welche Art auch immer. Arme Marylin. Arme Leonor.

Henry zog seinen Stuhl zurück, setzte sich, warf die Akte auf den Tisch. Erst als er mich auffordernd ansah – ein Stirnrunzeln – trat ich aus dem Dämmerlicht. In den hellen Lichtkegel, der sie umgab. Fühlte mich fehl am Platz. Im Licht. Zog den Stuhl mit einem Scharren zurück. Bebte. Setzte mich. Legte die Hände auf den Tisch.

Sie blickte noch immer nicht hoch. Starrte auf den Tisch. Nahm meine Hände wahr. Die sie schon überall berührt hatten aber nicht hatten halten können.

Leonor schauderte. Alles konnten es sehen. Gänsehaut wie kalter Reif. Dann sah sie hoch. Ihre Augenfarbe war grün. Grün – wie gefrorenes Meerwasser. Nicht blau, wie bei Marylin. Der einzige Unterschied.

Ihre Unterlippe bebte, dann wurde der Mund hart. Das Gesicht. Ich kannte diese Geste. Diese Härte. Mit diesem Ausdruck und dem Eiswasser in den Augen hatte sie mich weggeschickt.

„Warum hast du Bastian umgebracht?“

Ihre Stimme war so leise, dass sie unmöglich vom Band aufgenommen werden konnte. Aber Henry neben mir versteifte sich. Sah von mir zu ihr. Stirnrunzeln, ein Blick in die Akte. Der leere Status der Beziehung.

„Sie müssen hier keine Aussage machen, wenn Sie es nicht wollen.“ Der eilfertige Anwalt. Selbst als Pflichtverteidiger nahm er sich wichtig, dieser Idiot.

„Frau Liermann“, Henry ließ mich nicht aus den Augen, obwohl er mit ihr sprach. „Können und wollen Sie eine Aussage machen?“

Ihr grüner Blick. Schmelzwasser, salzig, lief über. Einmal hatte sie mir erzählt, dass sie als Kind nie weinen konnte. Aber jetzt und hier: dieses Eis schmolz tatsächlich.

„Du … er war mein bester Freund.“

„Wer?“ Henry zweifelte bereits. Der Mann, der sie alle findet. „Wer war Ihr bester Freund?“

„Bastian.“ Ihre Stimme, die Vibration. Jetzt schauderte ich, lehnte mich zurück. Wollte weg vom harten Licht.

„Damit ich das richtig verstehe.“ Henry richtete das Mikrofon neu aus. „Fürs Protokoll: Sie sagen, dass Bastian Berger Ihr bester Freund war? Warum haben Sie ihn dann erschossen? Vor allen Leuten?“

Leonor starrte. Mich. An.

„Sag du es ihnen, John. Sag du es.“

Mein erster Impuls: das Mikro zudecken. Dann: Leugnen. Sie ins Lächerliche ziehen. Sie unglaubwürdig machen. Ihr die Schuld geben. Ihr. Die Schuld.

„Weshalb soll mein Kollege etwas dazu sagen? Kennen Sie sich?“ Henry erhob sich. Nahm schon Abstand.

„Die Waffe … sie war scharf. Du kanntest das Stück.“ Leonor schluckte. „Bastian. Er war nie eine Gefahr. Er war ein Freund, ein Mentor. Warum hast du das nicht begriffen, John?“

„Ok, das geht zu weit.“ Der Anwalt erhob sich, palaverte über Paragraphen und Befangenheit. Henry war an der Tür und rief nach Verstärkung.

Wir sahen uns an. Grüne Augen. Blondes Haar. Eine zweite Marylin. Leonor war auf dem Weg, Karriere zu machen.

„Wir waren doch John und Marylin“, flüsterte ich, packte ihre Hand. Fest. Grob. „Du wärst zur Diva geworden. Unerreichbar. Für mich.“