Das seltsame Mädchen

„Kommt Papa wieder?“

Ich stand an der Hand meiner Oma auf der Straße – der einzigen Straße – unseres Dorfes Colalblo. Als sie nicht gleich antwortete, sah ich zu ihr hinauf. Oma sah dem Auto hinterher, der Mund weh, die Augen schmal. Ich drückte ihre Hand, weil ihr Schmerz so offensichtlich war. Da erst sah sie mich an, erwiderte meinen Händedruck und ignorierte das Auto. Ignorierte überhaupt den Mann, der darin wegfuhr, für den Rest ihres Lebens. Sie fasste sich, lächelte warm auf mich herunter. „Das wollen wir doch nicht hoffen, meine liebe Seraphine. Er ist … gegangen.“

Dann nahmen wir meinen kleinen roten Koffer, das eingepackte Buch, das mir mein Vater zum Abschied geschenkt hatte, und gingen nach Hause.

Mein Zuhause. Der Laden meiner Großeltern Magdalena und Antonio. Unser Dorf, das bis heute tatsächlich nur diese eine Straße hat. Die Menschen dort, die im Wechsel der Jahreszeiten lebten, liebten, lachten, stritten und starben.

„Warum bin ich seltsam?“, fragte ich noch am gleichen Abend meinen Opa.

„Seltsam? Du bist seltsam?“ Er erhob sich umständlich, dann setzte er mich auf die Ladentheke, besah sich meine nackten Arme, die Beine, ja, er sah sogar hinter meine Ohren. Brummte, kniff mich in die Wange, so dass ich lachen musste, und stupste dann meine Nase.

„Du bist jetzt wie alt?“

„Vier!“, rief ich stolz. „Schon fast fünf!“

„Also mein Kind, das einzig Seltsame ist der Dreck hinter deinen Ohren, das bekommen wir hin. Deine Knie sind aufgeschürft, auch das wird heilen, denke ich. Deine Haare“, er wiegte den Kopf und fluste durch das Vogelnest auf meinem Kopf. „Ja, das wird es sein. Dein Haar ist nicht von hier. Das hast du doch gestohlen, gibs zu.“

Ich kicherte. „Aber Opa, man kann doch keine Haare stehlen.“

„Nicht? Ich dachte, das wäre so. Aber wenn es nicht dein Haar ist, dann wüsste ich nicht, was an dir seltsam ist.“ Er brummte wieder und sah mich streng an. „Wer sagt, dass du seltsam bist?“

„Papa hat das gesagt.“ Jetzt wurde ich kleinlaut und sah auf meine aufgeschürften Knie.

„Aha, das hat er gesagt?“ Opa räusperte sich. „Warum?“

„Weil ich schon lesen kann und erst vier Jahre alt bin.“

„Na und? Mit Lesen kann man nicht früh genug anfangen.“

Jetzt beugte ich mich vor und flüsterte, weil Papa mir das so beigebracht hatte. „Aber ich kann das schon soooo lange. Schon seit ich klein war. Und das ist seltsam.“ Ich nickte bekräftigend mit dem Kopf.

Opa sagte eine Weile nichts, dann fühlte ich seine warme, alte Hand auf meinem gestohlenen Haar. „Tja, wenn das so ist, dann fragen wir doch den lieben Doktor. Dem kannst du vorlesen und er wird sagen, wie prima du bist.“

„Wirklich? Großes Ehrenwort?“ Ich lechzte danach, normal zu sein. Papa hatte mich schließlich wegen meines seltsamen Talents zurückgelassen.

„Ganz großes Ehrenwort!“

Ich hatte Glück. Der Arzt, der im nächsten Ort wohnte, Dr. Costello, war ein Neurologe, den der Unfalltod seiner Frau in die Berge getrieben hatte. Er meinte, dass ich prima sei, dass meine Haare tatsächlich nicht von hier sein konnten, und dass ich mir keine Gedanken machen sollte. Er sprach noch lange mit Opa und Oma, hinter dem Haus bei den Obstbäumen, bei einem Glas herben Rotwein, der hier in der Gegend wuchs. Danach kauften meine Großeltern Bücher ohne Ende.

Ich durfte seltsam sein.

Ich durfte lesen, rechnen, auf dem Computer in seiner Praxis Kurse online besuchen, die – wie ich erst später erfuhr – Tests waren, um mein seltsames Gehirn unter meinen gestohlenen Haaren zu prüfen. Dr. Costello war mein Hüter und Förderer. Und meine Großeltern mein Daheim.

Von meinem Vater hörte und sah ich über fünfzehn Jahre lang nichts. Das Buch, das er mich zum Abschied geschenkt hatte, war ein Wimmelbuch. Ohne Text natürlich. Mit dieser letzten Geste vor seinem Weglaufen machte er mir noch einmal deutlich, dass ich nicht normal sein konnte. Ich sollte Kind sein, nicht das, was ich wirklich war: Seltsam.

Dr. Costello nannte mein Gehirn eidetisch. Ich kann nichts vergessen, alles was ich lese, alles was ich erlebe, ist gespeichert und jederzeit abrufbar. Mein seltsames Gehirn ist so eigen, dass es den Intelligenzdurchschnitt unseres ganzen Dorfes um einige Level anhob. Nicht, dass meine Leute dumm waren, keineswegs, es lag schlicht an meinem Kopf mit dem gestohlenen Haar. „Intelligent bis zur Schmerzgrenze“, so nannte es Opa und flocht mir die Haare, um zumindest da etwas Ordnung zu schaffen. Oma hatte die Leitung der Dorfbücherei übernommen, um jederzeit an Bücher zu kommen, die sonst nicht bestellt worden wären.

Dann jedoch kam der Tag, an dem Dr. Costello die Schule für besonders Begabte in Rom vorschlug. Er wusste, dass ich längst unterfordert war, deshalb aufsässig und bockig. Ich führte die Buchhaltung des Ladens, ja erledigte für das ganze Dorf die Steuererklärungen und sämtliche Behördenangelegenheiten. Gab Nachhilfeunterricht in allen Fächern und vertrat unsere Lehrerin, als sie in Mutterschutz ging, und noch kein Ersatz da war.

Ich wollte trotz allem nicht gehen. Auch Oma war dagegen, weil Rom ein gefährliches Pflaster sei. Opa meinte jedoch, dass es Zeit wäre, und ich in Colalblo nur verdummen würde.

Die Schule in Rom. Ich weiß noch, dass ich so lange am hinteren Fenster des Busses saß, heulte und winkte, bis mir so schlecht wurde, dass ich mich übergeben musste. Trotzdem wurde es nicht besser. Mein Magen blieb ein klammer Klotz. Ich sollte bei Vater wohnen. Diesem wortkargen Mann, der viel auf Reisen gewesen war und immer still gegangen und genauso still wieder gekommen war.

Mein Vater Vito erwartete mich am Bahnhof. Offensichtlich nervös über meine Ankunft, amüsierte er sich doch über meine Frisur und sah dauernd auf seine Uhr, weil er noch einen wichtigen Termin hatte. Da der Zug spät dran war, nahm er mich gezwungenermaßen mit.

Eine Wohnung in der Nähe des Piazza Navona. Feudal eingerichtet, eine Treppe führte hinauf zur Dachterrasse, über die man ganz Rom sehen konnte. Der Petersdom war zum Greifen nahe. Männer in Anzügen, leises Gemurmel, ausgebeulte Jacketts. Und Don Alfredo. Ein alter Mann, durchdringende Augen, die Lippen immer feucht. Don Alfredo tätschelte mir die Wange und fragte meinen Vater: „Deine Tochter, mein Freund?“

Vater nahm Haltung an und räusperte sich. „Ja, Don Alfredo. Meine Tochter.“ Er verstummte kurz und musste sich für die nächsten Worte nicht einmal überwinden. „Seraphine. Sie ist … seltsam.“

Don Alfredo horchte auf. „Seltsam? In welcher Hinsicht, mein Freund?“ Er blickte plötzlich interessiert mit seinen stechenden Augen auf mich herab. „Gut, das Haar, ja.“ Er leckte sich über die Lippen. „Aber sie ist hübsch und scheint klug zu sein.“ Wieder ein Wangentätscheln mit seinen trockenen alten Händen, das mir jetzt verlogen vorkam und mir eine Gänsehaut verursachte. Dann gingen beide murmelnd hinaus.

Ich brauchte nicht lange, genaugenommen vier Minuten, um zu begreifen, wer Don Alfredo und was die Profession meines Vaters war: Ein Killer der Mafia.

Peng – in jeder Hinsicht.

„Du gehst schon wieder weg?“ Ich sah kaum von meinen Büchern auf, als Vater seinen kleinen Koffer packte. Gründlich, praktisch, pedantisch. Jedes Mal für drei Nächte.

„Ja, ich muss für Don Alfredo in Neapel nach dem Rechten sehen.“ Er sah nicht einmal auf, als er seine Hemden akkurat in den Koffer legte. Es hatte etwas Verstohlenes, wie er das tat, etwas Heuchlerisches. Etwas, das mir allmählich gehörig gegen den Strich ging. Der Stoff in der Schule war anstrengend, wenn auch zu bewältigen – wie immer – doch die Mitschüler machten mir das Leben schwer, weil ich sie schon nach vier Wochen hinter mir gelassen hatte. Mir fehlten mein Dorf und meine Großeltern schrecklich.

„Neid muss man sich verdienen!“, hatte mein Vater gemeint, als ich ihm einmal verzweifelt davon erzählt hatte.  Er hatte mir die Wange getätschelt, wie es Don Alfredo immer tat, und „Mein kleines seltsames Mädchen“, gemurmelt. Seither unterließ ich solche Anwandlungen und stellte fest, dass mein überforderter Vater darüber sehr erleichtert war. Seine Profession lag anderweitig.

Jetzt sah ich ihn bloß an. Noch immer über den Schreibtisch gebeugt, die Hand an der Stirn, mein wildes Haar um mich wie ein Verhau aus Stacheldraht.

„Das meinst du jetzt nicht ernst, oder?“

„Was, bitte, meinst du? Was soll ich nicht ernst meinen?“ Mein Vater stand da, den kleinen Koffer in der Hand, unschlüssig und verlegen. „Doch, eigentlich schon.“ Er trat von einem Fuß auf den anderen. Etwas war noch.

„Was?“, fragte ich ungeduldig und verdrehte die Augen.

„Du bist doch … schlau.“

„Was du nicht sagst. Ich bin gern schlau.“

Jetzt setzte Vater den Koffer sogar wieder ab. „Ich habe mir überlegt …“

„Du meinst, Don Alfredo hat sich überlegt.“

„Gleichgültig.“ Vater räusperte sich, wie es Opa auch immer tat. „Nun, wir dachten, da du doch so gern schlau bist …“  – Augenrollen meinerseits – „Du könntest Don Alfredo mit der Buchhaltung behilflich sein.“

Jetzt klappte mir der Mund auf und ich muss einen wirklich selten dämlichen Ausdruck im Gesicht gehabt haben, weil Vater glücklich lächelte. Das war sein Mädchen!

„Du weißt schon, dass mir klar ist, womit du dein Geld verdienst, Papa. Und was Don Alfredo tatsächlich ist.“

Wenn Vater erstaunt war, dann konnte er es gut verbergen. Eiskalt in diesem Moment, weil es um seinen Beruf ging. Mir kam der Gedanke, dass Don Alfredo schon den richtigen Mann für seine Aufträge gewählt hatte. Beides waren talentierte Männer in ihrem Gewerbe.

„Nun, das … gut, dann muss ich dich nicht darüber …“ Er schüttelte den Kopf, nahm seinen Koffer und wandte sich zur Tür. „Überlegs dir, bis ich wieder da bin.“ Und dann fügte er noch hinzu: „Du seltsames Mädchen.“

Ich weiß, dass er das Zerbrechen der geworfenen Tasse an der geschlossenen Tür noch gehört haben muss, aber er ging trotzdem. Dann hockte ich grübelnd da. Jetzt war mir klar, warum Oma damals froh war, dass ich aus dem Dunstkreis von Vaters Umgang herauskam und was sie mit „gefährlichem Pflaster“ gemeint hatte. Vater selbst war seiner „Familie“ zu ergeben, um mich dort herauszuhalten. Und er und ich wussten, dass ich kaum „Nein“ sagen konnte, ohne bleischwere Komplikationen heraufzubeschwören. Dass er es tatsächlich wagte … Opa hätte ihm den Kopf abgerissen. Na warte!

Don Alfredo. Der mächtigste Mann innerhalb Roms „Familie“ und weit über die Grenzen Italiens hinaus. Von seiner Dachterrasse aus regierte er seinen Clan, dort liefen alle Fäden zusammen. Ich hatte keine Probleme, mir die „Buchhaltung“ Don Alfredos anzueignen. Die verdeckten Konten, die Lieferungen jeglicher illegalen Art, die Prostituierten, der ganze Abschaum, der die feudale Wohnung von Don Alfredo nie betasten oder betreten durfte. Jetzt wusste ich sogar, wie viel Vater verdiente, wenn er einen seiner Aufträge erledigte. Und sogar noch einen Bonus erhielt, wenn es gekonnt wie ein Unfall aussah. Nichts entging meinem seltsamen Gehirn, ich konnte Kontonummern und -Stand ohne Zögern sofort hersagen, wusste über sämtliche Transportwege Bescheid, die Verstecke, die Hinterhöfe. Kannte jeden Mann und jede Frau beim Namen, die mir je unter die Augen oder zu Ohren gekommen waren. Ich machte mich innerhalb eines Jahres für Don Alfredo unersetzlich. Trotzdem, oder gerade deshalb, war ich das „Seltsame Mädchen“. Auch, weil Vater mich in Don Alfredos Gegenwart so genannt hatte. Ich glaube, die Wenigsten kannten meine wahren Namen: Seraphine. Ein Umstand, der in diesem Gewerbe von Vorteil sein konnte.

Die Schule besuchte ich weiterhin, was für die „Familie“ als Tarnung perfekt war und es somit gelten ließ. Don Alfredos Sohn, Roberto, der ebenso feuchte Lippen hatte, war in mich verschossen, aber ich lehnte dankend immer wieder ab. „Nicht hier, nicht am Arbeitsplatz.“ Hartnäckig blieb er trotzdem, wurde böse und gemein. Und ich wachsamer von Tag zu Tag. Ich wusste, was ich Opa, Oma und Dr. Costello, ja meinem ganzen Dorf schuldig war. Ehrlichkeit. Redlichkeit. Den Blick in den Spiegel, ohne die Augen abwenden zu müssen, weil man sich selbst nicht erkannt hätte.

So war ich aufgewachsen. So war ich: Das seltsame Mädchen. Ich schuldete meinem Vater nichts.

Die Gelegenheit ergab sich in meinem zweiten Jahr in Rom, gleich nachdem ich die Feiertage bei Oma und Opa verbracht hatte. Sie bestärkten mich darin, dem Ganzen ein grandioses Ende zu bereiten. „Nimm dich aber in Acht, Phine, das sind schlimme Männer“, hatte Oma gesagt. Und Opa hatte sich vorgebeugt und über mein Haar gestrichen. „Du hast immer noch dein gestohlenes Haar. Weiß der Himmel, wo du das herhast.“ Er räusperte sich müde. „Vito, unseren Sohn, haben wir schon lange verloren. Also geh, und sei so seltsam, wie es nur geht.“

Die Schule war vergleichsweise einfach im Gegensatz zu dem Doppelspiel, das ich von nun an führte. Dann kam es: das ganz große Ding: Eine Lieferung von Waffen, die von Neapel aus über fünf verschiedene Häfen und Schiffen ihr Ziel im Nahen Osten hatte. Dafür war so viel Geld geflossen, dass selbst Don Alfredo einen trockenen Mund bekam. Die ganze „Familie“ würde anwesend sein, um das Auslaufen des Schiffes wie eine Ozeanüberfahrt zu feiern. Nachts, keine Zeugen, Vater und seine Kollegen würden für die Sicherheit sorgen.

Und ich sorgte für das Catering und die Polizei.

Der Rest ist Geschichte. Die „Familie“ wurde zerschlagen, wer nicht festgenommen wurde, starb neben dem Lachs, dem Kaviar und dem vergossenen Champagner. Die Killer waren tot. Auch Vater. Seine Augen hatten einen fragenden Ausdruck, als ich vor ihm auf dem öligen Hafenkai kniete und die Lichter der Polizei hinter mir flackerten. „Du hast … so seltsames Haar. Ich habe mich immer gefragt, woher …“ Damit starb er.

Die Stadt Rom, ja ganz Italien waren mehr als dankbar. Ich hatte um Anonymität gebeten, was selbstverständlich war, erhielt Begleitschutz, einen netten jungen Mann – Adriano – der mir aus verschieden Gründen nicht von der Seite wich. Trotzdem fand eine kleine Feier statt, bei der ich eine sehr kurze Rede hielt, weil er und ich danach gleich nach Hause fahren wollten. Zu Oma und Opa, und wir dann alle zusammen untertauchen würden. Sie mögen ihn sehr. Alle drei sind einer Meinung: mein Haar kann nicht von hier sein und der aufrechte Adriano sieht darüber hinweg, dass es nur gestohlen sein kann.