In der Bahnhofsmission

von Christa Maria Buß

„Ist es wirklich in Ordnung, wenn ich jetzt gehe?“, fragte Frau Meier wohl zum hundertsten Mal. „Ich habe Ihnen ja gesagt, dass es dringend ist. Mein Horst … Sie wissen schon.“

„Aber sicher, ich werde die Stunde schon noch alleine rumbringen“, säuselte Margot und hatte Mühe, ein Augenrollen zu unterdrücken. Wann ging die blöde Kuh endlich?

„Gut. Also gut. Und vergessen Sie nicht, dass nachher noch ein Kind hier abgegeben wird. Es wird dann gleich von seinem Verwandten abgeholt. Das sollten Sie hinkriegen, oder?“

Margot sah beleidigt hoch. Was dachte die sich? Das wäre ja wohl eine der leichtesten Übungen. Ein Kind wird hergebracht, ein Kind wird abgeholt. Wo bitte, sah die Alte das Problem?

„Aber sicher doch, ich liebe Kinder!“, sagte Margot im Brustton der Überzeugung.

Frau Meier seufzte und bedachte Margot nochmals mit einem eindringlichen, zweifelnden Blick. Sie überlegte wohl, ob Margot es schaffen würde, eine Stunde auf die Bahnhofsmission aufzupassen, ohne den Laden abzufackeln. Dann nickte sie und ging schwerfällig zur Tür. Margot sah ihr nach, sah die schlecht sitzende Uniform, die die fette Frau Meier anhatte und die ihre Fettwülste noch betonte. Sie sah ihre dicken Strümpfe, weil Frau Meier Krampfadern hatte, und die ausgetretenen Schuhe, über deren Ränder die angeschwollenen Füße quollen. Da machte es keinen Unterschied, dass die Klimaanlage mal wieder ausgefallen war, Frau Meier schwitzte so oder so. Mit Mühe zog sie die Tür der Bahnhofsmission zu, der angebrachte Türstopper quietschte und versetzte der Tür dann einen letzten Stoß. Margot seufzte. Die Tür musste zubleiben, dann blieb die Hitze wenigstens draußen.

Dann, endlich, war Margot allein. Augenblicklich fuhr sie von ihrem Stuhl hinter der Theke hoch und sah nach, ob Frau Meier auch wirklich ging. Gut. Sehr gut.

Sie flitzte hinüber zur Toilette und besah sich im Spiegel. Kramte ihr Make-up hervor, erneuerte den schmalen Kajalstrich und fuhr ihren Mund mit dem Lippenstift dreimal nach. Dann das übliche Fischschnappen mit den Lippen und sie betrachtete sich zufrieden.

„Du Süße«, flötete sie zu sich selbst und warf ihrem Spiegelbild einen Kuss zu. Leichtfüßig durchschritt sie die ganze Mission. Das kleine muffige Zimmer mit den Schlafpritschen, den fensterlosen Aufenthaltsraum mit der Kaffeeecke und dem wackligen Tisch, die kleine verwanzte Küche, in der der abscheulich schmeckende Kaffee gekocht wurde und deren Kühlschrank bedenklich schnurrende Geräusche von sich gab.

Das alles würde sie bald hinter sich haben! Margot hätte jubeln können. Die Strafe war damit abgesessen und der blöde Richter besänftigt. Ladendiebstahl. Dabei hatte sie doch nur die Farbe des Lippenstiftes bei Tageslicht ansehen wollen. Und sie konnte wirklich nicht sagen, wie die Parfümflasche in ihre Tasche gekommen war. Na ja, sie konnte es schon, aber der kleinliche Kaufhausdetektiv wollte einfach nicht auf sie hören. So ein Idiot. Genau wie der Richter: Alle beide waren Blödmänner.

Sie tänzelte wieder zum Eingangsbereich und sah durch die mit Draht verstärkte Scheibe hinaus auf den Bahnhof. Es ödete sie an. Leute kamen, Leute gingen. Die ewig nervenden Durchsagen der plärrenden Lautsprecher, die sowieso keiner verstand. Der Dreck, die Hektik, das Kreischen der Zugbremsen, das einem eine Gänsehaut verursachte. Wenn doch nur endlich Matze käme. Er hatte ihr versprochen, sie heute abzuholen und ihr dabei seine Nichte vorzustellen. Sie freute sich so auf ihn und wollte gleich Freundschaft mit dem Mädchen schließen. Es würde Matze beeindrucken, wenn sie ihm zeigte, wie gut sie mit Kindern konnte.

Margot ging zurück und setzte sich auf den Drehstuhl und sah auf die Uhr. Noch achtundvierzig Minuten. Wie lange konnten achtundvierzig Minuten sein? Auf ihrem Handy rechnete sie die Minuten in Sekunden hoch und schnaubte ob der schieren Zahl. Zweitausendachthundertundachtzig. Das war ja noch ewig. Sie lehnte sich zurück, legte den Kopf in den Nacken und stieß sich mit dem Fuß am Schreibtisch ab. Sie drehte sich zweimal, bevor sie sich wieder anstoßen musste. Die Decke brauchte einen neuen Anstrich und die Lampe war von Fliegendreck gesprenkelt. Eine staubige Spinnwebe hing in der Ecke.

Gerade, als sie sich das dritte Mal anstieß, wurde die Tür geöffnet. Mühsam, ob des Türstoppers, und gleich drangen die lärmenden Geräusche und die aufgestaute Hitze des Bahnhofs herein. Am liebsten hätte Margot aufgeschrien, dass die Tür gefälligst schnell zu schließen sei. Aber sie stieß sich vor Überraschung ihr Knie am Schreibtisch und hatte Mühe, den Schmerz zu unterdrücken. Sie bückte sich und fuhr sich immer wieder über die gestoßene Stelle. Mist, wenn sie jetzt einen blauen Fleck bekam, könnte sie heute Abend nicht den luftigen kurzen Rock tragen, der Matze an ihr so gefiel.

„Verzeihung …“, kam es fragend von oben und beinahe hätte sich Margot den Kopf noch gestoßen, als sie unwirsch hochfuhr.

„Was!?“

Vor ihr stand eine Frau in der Uniform der Bahn. Sie wirkte verschwitzt und die Ungeduld war ihr deutlich anzusehen. Neben ihr stand ein Mädchen, das eine Baseballmütze trug, unter der das Gesicht nicht zu erkennen war. Aber das Haar, oh Gott, das Haar. Hatte dieses Kind niemanden, der sich um das Haar kümmerte? Es war blond und strohig, stumpf und sah aus wie ein aufgelöstes Vogelnest. Dieses Haar hat im Leben noch nie eine Spülung gesehen, schoss es Margot durch den Kopf.

„Hören Sie, das ist Mathilda, ich habe sie herbegleitet. Sie wird später von ihrem Onkel oder so abgeholt.“ Die Uniformfrau überreichte Margot einige Papiere und war schon wieder auf dem Weg nach draußen. „Ich muss gleich wieder los, mein Zug wartet nicht.“ Damit war die Zugbegleiterin schon in der Tür. Sie kämpfte mit dem Türstopper und das hielt sie Gott sei Dank auf.

„Moment“, rief Margot. „Was soll ich mit der Kleinen machen? Bis wann wird sie abgeholt?“

„Oh, das weiß ich nicht. Steht aber alles in den Papieren. Machen Sie es gut, Mathilda ist eine ganz Liebe.“ Und damit war sie weg. Die Tür versetzte der Frau noch extra Schwung, als der Türstopper sie mit einem letzten Ruck zudrückte. Na prima.

Margot drehte sich zu dem Kind um, das jetzt endlich den Kopf hob und in diesem Moment hätte Margot am liebsten geflucht. Das Kind war behindert. Downsyndrom, so viel konnte sie erkennen und wusste auch, dass es solche Kinder gab. Nochmal prima. Und jetzt?

Panik wollte sich in ihr ausbreiten. Was, wenn das Vogelnestkind aufs Klo musste und das nicht alleine konnte? Oder wenn sie Angst vor Fremden hatte und anfing zu schreien, obwohl Margot sie nicht mal freiwillig anrühren würde. Himmelherrgott, hoffentlich kam dieser Onkel bald. Wehe, wenn nicht. Margot ballte die Fäuste.

Sie ging vorsichtig um das Mädchen herum, das sie wortlos beobachtete. Die Augen geschlitzt, das Gesicht plump, wie es bei solchen Kindern nun mal war.

„Äh … willst du dich nicht hinsetzen?“, fragte Margot und flüchtete sich regelrecht hinter die Theke. Sie nahm wieder auf dem Drehstuhl Platz und zeigte auf die Bank neben der Eingangstür. Dort konnte das Mädchen ruhig hocken, bis es abgeholt wurde.

Die Kleine nickte und ging hinüber zur Bank, setzte sich und nahm die Mütze vom wirren Haar. Den kleinen Rucksack nahm sie auf den Schoß, die Beine fingen an zu baumeln. Sie sah sich um, blieb aber stumm. Ihre Augen waren blau und Margot musste an Matze denken, der auch so schöne blaue Augen hatte. Hach. So betrachtet, war die Kleine schon fast wieder hübsch.

Trotzdem.

Margot tat so, als ob sie etwas auf dem Schreibtisch zu tun hätte. Aber Frau Meier hatte schon alles erledigt, weil sie Margot nichts zutraute, und das einzige Papier, das Margot finden konnte, waren die Schreiben, die die Uniformfrau dagelassen hatte. Sie sah sie an, las und sah wieder zu dem Mädchen. „Du heißt Mathilda Thaler?“

Das Mädchen, das zum Fenster hinausgesehen hatte, drehte sich zu ihr um und nickte. Margot konnte der Versuchung nicht widerstehen: „Kannst du sprechen?“

Wieder ein wortloses Nicken. Dann sah die Kleine wieder hinaus, was Margot ärgerte. Aber wahrscheinlich hatte das Kind eher Interesse an den Zügen. Das hatten Kinder doch immer, oder? Egal ob behindert oder nicht: Züge sind toll!

Es wurde still im Raum. Margot sah auf die Uhr über der Tür und einen schrecklichen Augenblick lang glaubte sie, die Uhr sei – wie die Klimaanlage – kaputt. Doch der schmale rote Sekundenzeiger bewegte sich. Schleichend. Noch fünfunddreißig Minuten. Das waren zweitausendeinhundert Sekunden. Oh je.

Margot nahm ihr Handy und kontrollierte, ob sie eine Nachricht bekommen hatte. Jule hatte ein Bild geschickt – von sich und der ganzen Clique im Schwimmbad. Die schwitzten nicht, dachte Margot und simste zurück, dass sie und Matze bald kämen, zusammen mit der Nichte von ihm. Dann würden sie es krachen lassen. Wenns denn nur endlich so weit wäre.

Zweiunddreißig Minuten. Margot wollte gar nicht mehr wissen, wie viel das in Sekunden war. Sie rief ein Spiel auf ihrem Handy auf und fing an zu spielen. Das Mädchen saß ja sicher auf der Bank und würde sich schon melden, wenn was wäre. Margot hoffte das zumindest. Die Kleine war auf der Bank sicher wie in Abrahams Schoss und brauchte sie nicht.

Der Akku des Handys versagte.

Beinahe hätte Margot frustriert aufgeschrien, verkniff es sich aber, da sie das Vogelkind nicht erschrecken wollte. Nicht auszudenken, was dann alles passieren konnte.

So fing sie wieder an, sich auf dem Stuhl zu drehen. Nebenbei nahm sie wahr, dass die Kleine sie beobachtete und sogar lächelte. Ihre Augen wurden dabei noch kleiner und Margot kam der Gedanke, wie sie selbst wohl mit solchen Augen aussehen würde. Sie nahm den kleinen Spiegel aus ihrer Tasche und stellte ihn auf den Tisch. Dann, als das Mädchen wieder sehnsüchtig hinaussah, zog Margot ihre Augenwinkel hoch. Nein, so wollte sie nicht aussehen und fluchte leise, weil sie sich das Make-up verwischt hatte. Mist. Jetzt musste sie es noch mal machen.

Sie stand auf und wollte nach hinten gehen. Da sah sie, dass das Mädchen sie beobachtet hatte, wie sie sich die Augen hochgezogen hatte. Egal, die Kleine würde es sowieso nicht verstehen. Deshalb streckte ihr Margot die Zunge raus und ging nach hinten. Das Vogelmädchen wirkte wütend, aber sie würde bald weg sein, wen kümmerte es dann noch?

Margot war vor dem Spiegel fast fertig, als sie hörte, wie im Vorraum die Tür aufgezwängt wurde. Dann Stimmen, die von dem Mädchen – sie konnte also wirklich sprechen – und von … Matze!

Eilig lief Margot nach vorne. Beinahe wäre sie gestolpert, weil sie so absolut von dem Anblick vor ihr überrumpelt wurde. Da stand Matze und fuhr dem Mädchen freundschaftlich durchs Vogelhaar und die Kleine strahlte zu ihm hinauf. Beide lachten und schlugen einen High-Five.

Als sich Matze zu ihr umdrehte, lag noch immer die Freude in seinen blauen Augen, die dem des Mädchens so glichen.

„Hallo Maggie, dann hast du meine Nichte Mathilda ja schon kennengelernt. Das ist ja großartig!“

Hinter seinem Rücken sah Margot, wie Mathilda die Hände hob, sich die Augen noch mehr zu Schlitzen zog und ihr die Zunge rausstreckte.

Ja, großartig. Wirklich großartig.