von Christa Maria Buß
Langsam, viel zu langsam, setzte sich der Zug in Bewegung. Peter seufzte. Endlich. Nur mit Mühe hatte er sich davon abhalten können, auf dem Gang zu stürmen und den Schaffner anzubrüllen, damit der Zug endlich losfuhr.
Er setzte sich auf seinen Platz am Fenster, die Tüte mit der Schuhschachtel auf dem Sitz neben ihm raschelte leise. Er warf einen kurzen Blick darauf und starrte dann mit brennenden Augen aus dem Fenster.
„Entschuldigen Sie bitte?“ Eine Frau mit einem Mädchen an der einen Hand und einer riesigen Allesfindetasche in der anderen stand vor ihm. In diesen Taschen konnte man so ziemlich alles verstauen, was man brauchte, um ein Kind auf Reisen zu beschäftigen.
„Dieser Platz …“ Sie deutete auf den Sitz neben ihm. „Ist der noch frei?“
„Sicher.“ Peter nahm die Tüte an sich und drückte sie einem Impuls folgend an sich. Er umarmte die Tasche mit der Schachtel darin und wiegte sie beinahe. Die Gummistiefel darin rieben aneinander und gaben ein quietschendes Geräusch von sich, das nur er hören konnte.
Die Kleine kletterte neben ihn auf den Sitz und betrachtete ihn scheu und gleichzeitig neugierig.
„Was ist da drin?“, fragte sie und zeigte mit ihrer kleinen Hand auf die Tüte in seinen Armen. Was nicht erstaunte. Welcher Mann nahm schon eine Plastiktüte in den Arm? Es musste mehr als wunderlich aussehen.
Er sah das Mädchen an, das so ohne Argwohn zu ihm aufsah. Die erste, ungeduldige Antwort schluckte er hinunter und sagte stattdessen, noch immer von den aufwühlenden Gefühlen beherrscht: „Da drin sind Fliegestiefel.“
Beinahe bereute er, dass er es sagte. Dass er einem wildfremden Kind Tante Margots Lieblingswort verriet. Ein schneller Blick in das Gesicht der Mutter der Kleinen sagte ihm, dass sie ihn nicht für komplett verrückt hielt. Nein, vielmehr schien seine Antwort sie zu amüsieren. Was ganz im Gegensatz zu seiner Verfassung stand und er sich deshalb beinahe beleidigt abwandte.
Tante Margots Fliegestiefel.
Tante Margot. Die engste Freundin und Gefährtin seiner Kindheit. Die Schwester seiner Mutter Tina, die bei ihnen im Haus der Großeltern wohnte. Das Haus hatte seine Mutter geerbt mit der Auflage, sich ein Leben lang um Margot zu kümmern. Margot war kleinwüchsig und geistig in ihrer Kindheit stecken geblieben. Sie war zwölf Jahre älter als Peter, aber seine liebste Gefährtin. Sie passte auf ihn auf und beschützte ihn. Mit ihr hatte er die tollsten Abenteuer erlebt.
Peter dachte an Margots Augen, die immer gütig gewesen waren und an ihr Lachen, das von Herzen gekommen war. Sie hatte immer schmerzlich gelitten, wenn sie sah, wenn etwas kaputt gemacht wurde. Sie, die heillos entsetzt war, als das Haus am Ende der Straße abgerissen wurde, und unter Tränen behauptet hatte, sie könne es schreien hören. Und die jeden Käfer, jeden Regenwurm, alles was kreuchte und fleuchte, mit einem ehrfurchtsvollen Respekt behandelt hatte und jedem Ding und Tier eine Seele zugeschrieb.
Tante Margot war der empfindsamste Mensch, den Peter je kennengelernt hatte.
Margot konnte der für sie unbegreiflichen Grausamkeit der Welt, der gnadenlosen Rohheit der Menschen, nichts entgegensetzten, und wollte allem entfliehen. „Am liebsten möchte ich davonfliegen“, hatte sie gesagt. „Und dich nehme ich mit.“
Und so hatten Peter und sie sich daran gemacht, ihre gelben Gummistiefel zu bemalen. Flügel sollten ihnen wachsen, damit sie der Erbarmungslosigkeit entkommen konnten, die sich so drückend auf das freudige, liebe Gemüt von Margot gelegt hatte. Leider hatten sie dabei Farben genommen, die nicht wasserfest waren. So waren die Flügel bei ihrem ersten Lauf über eine Wiese vom Tau aufgeweicht und abgewaschen worden. Margot war untröstlich gewesen.
„Mami, warum weint der Mann?“
Die Stimme der Kleinen holte Peter in die Gegenwart zurück. Dass ihm Tränen über die Wangen liefen, hatte er gar nicht bemerkt. Seine Hände fuhren über sein Gesicht, er rieb sich die Augen. Ja tatsächlich, er weinte.
„Geht es Ihnen nicht gut?“ Die Stimme der Frau klang besorgt. „Möchten Sie etwas trinken?“ Sie griff in die Allesfindetasche und holte eine Flasche Wasser und – wen wunderte es? – einen farbigen Plastikbecher heraus.
„Danke.“ Peter räusperte sich, seine Stimme war rau und brüchig. Mit einem stummen Nicken nahm er den Becher entgegen und trank. Das Wasser war sogar noch kühl und rann ihm wohltuend die Kehle hinab. Es linderte jedoch nicht seinen inneren Schmerz. Er gab den Becher zurück, nickte dankend und sah wieder zum Fenster hinaus, ohne wirklich etwas zu sehen.
Seine Mutter hatte ihnen, nachdem er ihr erklärt hatte, warum Margot so aufgelöst war, wasserfeste Stifte besorgt. In Blau und Grün und Schwarz. Damit hatten sie erneut Flügel auf ihre Gummistiefel gemalt. Die Konturen schwarz, innen blau und an den Rändern grün. So wie sich Margot Flügel vorgestellt und sie einmal in einem Asterix-Heft gesehen hatte: Der geflügelte Helm des Helden. Nur dass ihre bunt waren und deshalb etwas ganz Besonderes. Margot war überglücklich gewesen. Immer, wenn es ihr oder Peter nicht gut gegangen war, hatten sie die Stiefel angezogen und waren in ihrer Fantasie der schrecklichen Realität davongeflogen.
Fliegestiefel war fortan Margots Lieblingswort gewesen.
„Was sind Fliegestiefel?“ Das Mädchen war vor Peter getreten und ignorierte den Versuch ihrer Mutter, sie wegzuziehen. Seltsamerweise tat es ihm gut, dass das Mädchen danach fragte. Er verspürte den dringenden Wunsch, über Tante Margots Fliegestiefel zu sprechen. Er wollte, ja musste darüber sprechen, sonst würde er irgendwann anfangen zu schreien. Deshalb holte er die Schachtel aus der Tüte, öffnete sie und holte die gelben Gummistiefel heraus. Sie schimmerten in der Sonne, die durch das Fenster hereinfiel und gaben ein gummiartiges Geräusch von sich, als er sie in den Händen drehte.
„Da sind ja keine Flügel dran. Warum haben sie denn keine Flügel, wenn es Fliegestiefel sind?“ Die Kleine schien enttäuscht.
„Die kommen erst noch. Ich hatte noch keine Zeit dazu“, erklärte Peter und betrachtete die Stiefel. Sonnengelb, die grauen Sohlen mit Profil, oben am Schaft ein Gummizug, damit kein Wasser eindringen konnte. Er schluckte hart und bemerkte, dass er beinahe wieder in Tränen ausbrach. Er verfluchte sich selbst und war sich bewusst, wie bescheuert er rüberkommen musste. Er war über dreißig und sprach hier über Gummistiefel. Gings noch peinlicher?
„Was ist Ihnen zugestoßen?“
Er sah zu der Frau hinüber, die ihn verständnisvoll ansah und sich keineswegs über ihn lustig machte. Er lächelte gequält und spürte erneut das Verlangen, über Tante Margot sprechen zu müssen.
„Wie viel Zeit haben Sie?“, fragte er in einem letzten Versuch, sich niemanden aufdrängen zu wollen.
„So viel, wie Sie brauchen“, sagte die Frau und nahm dabei das Mädchen auf den Schoß. Abwartend sahen beide ihn an. Auffordernd. So gab er sich einen Ruck und erzählte der Fremden alles über Tante Margot. Seiner Seelenfreundin, die gestern an einer dummen Lungenentzündung gestorben war. Und für die er jetzt die neuen Stiefel besorgt hatte, in aller Eile, aber keinen Stift hatte, um Flügel darauf zu malen, damit es Fliegestiefel werden konnten.
Die Frau hatte aufmerksam zugehört, ohne zu erkennen zu geben, wie kindisch er sich anhören musste. Nein, sie war still geblieben, ergriffen sogar. Sie lächelte nun selbst unter Tränen und fing an, in der Tasche nach Taschentüchern zu suchen. Glaubte er zumindest. Deshalb sah Peter wieder hinaus, fühlte sich leer und beschämt, weil er einer Fremden sein Herz ausgeschüttet hatte.
Da tippte ihn das Mädchen wieder an und als er hinuntersah, streckte sie ihm einen Packen Stifte entgegen, die mit einem Gummiband zusammengehalten wurden. Viele Stifte, bunte Stifte – und allesamt nicht wasserfest. Aber das machte nichts.
Er lachte schluchzend auf und nahm sich den Schwarzen, den Grünen und den Blauen. Als der Zug zu Hause einfuhr, waren aus den Gummistiefeln die schönsten Fliegestiefel geworden, die er je gemalt hatte.
Tante Margot würde jetzt wirklich fliegen können.