von Christa Maria Buß
Das Licht der Sonne brach gefiltert durch die kleinen Fenster der Kapelle. Staub flirrte segnend auf die Fliesen, das Holz einer Gebetsbank knackte. Ansonsten war es still. Ein Verweilen der Zeit.
Luca stand ehrfürchtig am Sockel der wenigen Altarstufen. Wie immer wagte er es nicht, die Stufen zu erklimmen, die hinaufführten zur Madonna. Seiner Madonna, daran gab es keinen Zweifel.
Sie stand so erhaben und unnahbar. Und doch so voller Güte. Lebensgroß, ein schlichtes weißes Gewand, ein blauer Umhang. Ein Fuß in einer einfachen Sandale schaute unter dem Saum des Kleides hervor. Ihre linke Hand hatte die Madonna auf ihr Herz gelegt, die Rechte war leicht gehoben, als ob sie Luca aufforderte, zu ihren Füßen Platz zu nehmen. Das Gesicht … Luca schluckte. Er hatte seine Madonna schon so oft betrachtet, heimlich nach der Schule so wie jetzt, offen während der sonntäglichen Messen, und noch immer war er fasziniert vom Gesicht der Mutter Gottes.
Die Augen hatte sie geschlossen, die Madonna schien in innigem Gebet versunken. Der Mund war leicht geöffnet, die Lippen bitter, der Kopf ergeben geneigt. Die ganze Figur strahlte gleichzeitig Schmerz und Trauer aus. Und eine schwelende Kraft, die, trotz der Vergänglichkeit des Lebens, unleugbar zugegen war. Luca hatte sie schon so oft betrachtet und doch erschien ihm ihr Ausdruck immer wieder neu.
Die Sonne sank tiefer und ihre Strahlen erreichten den herausschauenden Fuß der Statue. Augenblicklich nahm das Glas das Licht auf, zog es magisch über die ganze Gestalt und von einem Moment zum anderen war das Innere der Kapelle von Glanz übergossen. Alle Farben des Regenbogens glitten schillernd über die weiß gekalkten, schmucklosen Wände. Luca sah sich staunend und mit offenem Mund um. Darauf hatte er gewartet: Auf das Leuchten seiner Madonna. Wenn sie die Kapelle erhellte, war es, als würde sie das nur für ihn tun und ihm damit die einzige Freude in seinem schäbigen Leben als Waisenjunge zu schenken. Er konnte nicht sagen, warum es ihn immer wieder hierherzog. Aber hier – und nur hier – empfand er so etwas wie Trost.
Verträumt saß er vor der ersten Bank auf dem Boden, als die Tür am Ende des Ganges aufgestoßen wurde. Im Durchgang erschien die mächtige Gestalt von Meister Matteo und verdunkelte den Eingang. Luca zuckte zusammen. Ausgerechnet Meister Matteo musste ihn finden. Er sprang hoch und schlug sich den vermeintlichen Staub von den Hosen. Nicht, dass es in der Kapelle schmutzig gewesen wäre, aber er wusste nicht, wohin sonst mit seinen Händen. Und es war ein Ding der Unmöglichkeit, an Meister Matteo schnell und unerkannt vorbeizuflitzen, weil Lucas lahmes Bein ihn behindern würde.
Meister Matteo war ein Bär: Breit in den Schultern, massig seine ganze Gestalt. Er hatte riesige Hände und einen einfachen, tumben Verstand. Und doch war es dieser Mann gewesen, der die Madonna erschaffen hatte. Dieses feingliedrige Mysterium aus Glas, das weit über die Grenzen des Dorfes hinaus bekannt war und dem bereits Wunder nachgesagt wurden.
Meister Matteo wohnte abseits des Dorfes und arbeitete als Glasbläser. Er lebte allein und duldete kaum Besuch, seit seine geliebte Frau Rosanna qualvoll im Kindbett gestorben war. Die Madonna hatte er nach ihrem Ebenbild geschaffen. „Ein begnadeter Mensch“, so wurde über Matteo gesprochen. „Ein gottesfürchtiger Mann. Ein Mensch, dessen Schicksal ihn zu Göttlichem berufen hat.“ Für Luca war Matteo beinahe ein Heiliger.
„Was tust du hier drin?“, polterte Matteo los, als sich seine Augen an das Licht in der Kapelle gewöhnt hatten. Er kam drohend auf Luca zu und dieser wich soweit zurück, bis seine Füße an die unterste der Stufen stießen. Er fiel hin und sah furchtsam zu Matteo hinauf.
„Bitte verzeiht mir, Meister Matteo, ich wollte doch nur …“ Bevor Luca seinen Satz zu Ende sprechen konnte, hatte Matteo ihn bereits an seinem dünnen Hemd gepackt und zu sich hochgezogen.
„Du hast hier nichts verloren! Mach dass du wegkommst! Du störst meine Madonna!“
Damit stieß Meister Matteo Luca vor sich her, den Gang zwischen den Kirchenbänken hinab. Luca stolperte, weil sein lahmes Bein nicht schnell genug war, und entschuldigte sich immer wieder murmelnd. Erste Tränen rannen ihm über das Gesicht. An der Türschwelle stürzte er schließlich doch und seine Hände wirbelten den feinen Staub des Marktplatzes auf, der in der blendenden Sonne lag. Luca hustete mit zugekniffenen Augen und fuhr sich mit dem Ärmel darüber. Deshalb sah er auch nicht, dass er direkt vor Vater Lorenzos Füße gestürzt war. Matteo hatte bereits die Fäuste wieder in seinen Nacken gelegt und wollte ihn auf die Füße zerren, als die drängende Stimme Lorenzos ihn davon abhielt.
„Matteo, was soll das? Lass den Jungen in Ruhe! Gerade du solltest deine Finger von ihm lassen!“, zischte Vater Lorenzo mit einer Dringlichkeit in der Stimme, die Luca eine Gänsehaut verursachte, obwohl er in der nachmittäglichen Sonne kniete.
„Ihr habt mir nichts zu …“, Matteos harsche Antwort erstarb röchelnd. Seine Hand zuckte von Lucas Schultern zurück, als ob er sich verbrannt hätte. Luca nutzte die Gelegenheit, rappelte sich auf und floh hinter Vater Lorenzos schmale Gestalt in der schwarzen Kutte. Lorenzo stand aufrecht vor ihm, voller Stolz und Zorn. Trotz seiner schmächtigen, ja beinahe asketischen Erscheinung strahlte Lorenzo eine Autorität aus, die ihn jetzt sogar auf Matteo hinabfunkeln ließ, obwohl dieser ihn um einen Kopf überragte.
„Du hast dem Jungen schon einmal wehgetan. Ich verbiete es dir, ihn noch einmal anzufassen, hörst du?“ Lorenzos Hand fuhr in die Höhe, als wolle er einen Teufel bannen. „Ich verbiete es!“, bekräftige er seine Worte noch einmal und nahm Luca am Arm. Luca sah vorsichtig um Lorenzo herum und konnte so die Veränderung miterleben, die sich auf Meister Matteos Gesicht, ja in seiner ganzen Haltung wiederspiegelte.
Matteo blinzelte mehrmals, sein Mund stand leicht offen, was den Eindruck seines einfältigen Verstandes noch verstärkte. Doch dann geschah es. Matteos Schultern versteiften sich krampfhaft, die Hände zuckten, Zorn verzerrte plötzlich sein Gesicht. Seine Augen verengten sich und sie starrten Luca hasserfüllt an. Mehrmals holte Matteo pfeifend Luft, bevor er sich duckte und mit geballten Fäusten nach vorne stürzte. „Du!“ knurrte er.
Vater Lorenzos kleine Gestalt konnte der schwarzen Wut Matteos nichts entgegensetzen. Ohne Mühe wurde er von ihm zur Seite gewischt und zu Boden geworfen. Luca geriet in den packenden, unnachgiebigen Griff von Matteos Fäusten. Er wurde hochgezerrt, direkt vor Matteos ungläubiges Gesicht. Der Griff um seinen Hals wurde enger. Luca japste erschreckt nach Luft und konnte seine Augen nicht von Matteos zwingendem Blick lösen. Er konnte seinen sauren Atem riechen.
Matteo schien ihn genau zu betrachten, als suche er etwas. Schließlich nickte er und schüttelte Luca. „DU!“, schrie Matteo heißer. „Du Ausgeburt der Hölle, du elende kleine Ratte. Du bist schuld! Schuld an allem!“
Dann wandte er sich blitzschnell um und schleifte den nun entsetzt schreienden Luca hinter sich her. Lorenzo, der versucht hatte, beruhigend auf Matteo einzureden, schüttelte dieser mit einem Fluch auf den Lippen ab. Mit wenigen riesigen Schritten war er beim Eingang der Kapelle und sogleich spürte Luca die Kühle der Luft, die sich schattig auf seine Schultern legte. Er wurde achtlos auf eine Kirchenbank geworfen und schrie auf, weil er auf sein versehrtes Bein fiel und sich nicht abfangen konnte. Deutlich hörte er, wie der Knochen brach. Dann fühlte er nur noch grellen Schmerz. Dass er polternd unter die Kirchenbank fiel, bemerkte er fast gar nicht. Er wusste nur noch, dass er sich verstecken musste. Matteo war wahnsinnig geworden. Was war nur in ihn gefahren? Luca verstand es nicht und wich heulend weiter bis zur Wand zurück. Er versuchte, sein Schluchzen zu unterdrücken, um Matteo nicht noch mehr zu reizen. Aber er hörte, wie Matteo schnaufend und fluchend die Tür der Kapelle mit zwei Gebetsbänken verrammelte. Entfernt konnte Luca Vater Lorenzo draußen rufen hören. Vergeblich.
Matteo schnaufte weiterhin heftig und Luca fragte sich, ob der riesige Mann etwa weinte wie er. Doch dann stapfte Matteo wie ein wütender Stier an Luca vorbei, den Kopf gesenkt wie zum Angriff, die Schultern hochgezogen. Seine knirschenden Schritte verharrten vor der gläsernen Madonna. Das Leuchten, das Schillern, die unbändige Pracht schien noch intensiver geworden zu sein, nun, da die Statue zur Gänze in der untergehenden Sonne stand. Regungslos aber voller Anteilnahme, so erschien es Luca. Er hatte sich aufgesetzt und lugte zwischen den Bänken nach vorne. Er wandte kurz den Kopf, als er hörte, wie Lorenzo weiterhin von außen an die Tür hämmerte. Lorenzo rief und schrie, dass es doch nicht die Schuld des Jungen wäre, dass niemand Gottes Wille kenne und dass Matteo sich nicht ins Unglück stürzen solle.
Schließlich verebbte das Poltern und Rufen. Schritte entfernten sich hastig.
Es wurde wieder still in der kleinen Kapelle. Einzig Matteos rauer Atem war zu hören. Er kniete direkt vor der Madonna und flüsterte und schluchzte. „Meine Schöne, meine geliebte Rosa, meine Madonna.“ Er hob eine seiner riesigen Hände und zitternd fuhr diese über den Fuß der Statue. Streichelte und liebkoste. Die Madonna hatte den Kopf wie immer leicht gesenkt und nun erschien es Luca, als würde sie lächeln und die leicht gehobene Hand würde Matteo gleich über den Kopf streichen.
Luca schluchzte und mit seinem Arm fuhr er über das Gesicht und Augen. Da war die Illusion des Einvernehmens zwischen Matteo und der Madonna verschwunden, so wie auch das gebrochene Licht des Glases verschwand und erlosch. Die Sonne war untergegangen und in der Kapelle lag nun eine Düsternis, die sich schwer und drohend über alles legte.
Luca fing an zu frieren und versuchte, sich heimlich zur Tür zu schleppen. Vergeblich unterdrückte er einen Schrei, als er mit seinem verletzten, seltsam abgewinkelten Fuß an dem Taufbecken neben der Tür hängen blieb. Er keuchte und schniefte und zog sein Bein mit den Händen näher an sich heran. Vorsichtig linste er um den Sockel des Taufbeckens herum und zuckte zurück. Meister Matteo stand direkt vor ihm und sah mit einem Zorn auf Luca herunter, dass er jetzt tatsächlich um sein Leben fürchtete. Matteo war ganz sicher nicht mehr er selbst. Seine groben Hände zuckten herab und packten Luca. Er wurde hochgerissen und über Matteos Schultern geworden. Luca schrie, weil Matteo nach seinem gebrochenen Fußgelenk griff, um Luca auf keinen Fall entkommen zu lassen. Der Glasbläser lachte heiser. „Du elender kleiner Wurm. Du hast sie umgebracht. Komm und flehe um Vergebung“, schnaufte Matteo und trug Luca nach vorne zur Madonna.
Luca hob den Kopf, als er ein Scharren an der Tür vernahm. Durch den Schleier seiner Tränen und seines Schmerzes sah er, wie sich ein kleiner Spalt von Licht an der Tür öffnete. Das Holz der Bänke scharrte über den Boden. Aber Vater Lorenzo war nicht schnell genug. Es würde nicht reichen, um Matteo aufzuhalten. Luca wand sich wie verrückt auf Matteos Schultern.
Matteo, der trotz seines Deliriums ebenfalls das Geräusch vernommen hatte, drehte sich um. Gerade, als er die erste Stufe zum Altar hinaufgehen wollte. Er stolperte und fiel. Luca glitt von seiner Schulte und spürte, wie sein Rücken an den Sockel der Statue knallte. Die Tür wurde ächzend und knarrend geöffnet und Vater Lorenzo und einige Männer des Dorfes drangen in die Kapelle.
Es muss Vorsehung gewesen sein. Der Wille Gottes.
Alle sahen, wie Luca sich reflexartig an der Madonna festhielt, die sich beinahe mütterlich über ihn neigte und schließlich stürzte. Ein entsetzter Aufschrei allseits, als die Statue zu Boden krachte. Das Glas knackte dunkel und trocken, dann zogen sich Risse blitzartig über die ganze Figur. Luca lag direkt vor ihrem Gesicht, als das bittere Lächeln der Madonna zersplitterte. – Und die Leiche seiner toten Mutter freigab, die noch immer ihre Hand nach ihm ausstreckte, als ob sie ihm das Haar aus dem Gesicht streichen wollte.