Leseprobe

Prolog

Verjagt. Sie hatten mich verjagt, ausgestoßen, verprügelt  – verjagt.

Langsam drehte ich mich um. Weg vom Anblick des Dorfes. Es hatte keinen Zweck, weiter hinunter zu starren. Von hier oben sah es beinahe friedlich aus. Rauch aus den Schornsteinen, die Fenster erleuchtet, der Schnee deckte alles sorgsam zu. Heimat.

Nicht mehr für mich. Also warum weiter sehnsuchtsvoll starren? Warum weiter auf ein Zeichen warten, das niemals, auf keinen Fall, kommen würde?

Fröstelnd zog ich den zerrissenen Umhang um mich. Ich zischte, als sich dabei die Wunden auf meinem Rücken und Armen schmerzhaft in Erinnerung brachten. Um mich loszuwerden waren sie nicht zimperlich gewesen. Aber einfallsreich.

Jetzt schauderte mich, als ich daran dachte. Schläge, Hiebe, ein bösartiger Tritt an die Schläfe, alles durch den geschlossenen Sack hindurch. Und schreien konnte ich nicht. Der würgende Knebel verhinderte dies. Dann kam das Wasser, dann die Steine.

Irgendwann schritt jemand ein und verfluchte die ganze Bande. Befreite mich. Ich blinzelte mit einem Auge ins flackernde Licht einer Fackel. Das andere Auge war längst zugeschwollen und das würde noch einige Tage so bleiben.

Edgar war es, der mich rettete. Edgar, der Sohn des Bäckers, der schon immer mein Freund gewesen ist. Aber hierbei konnte er mir nicht helfen.

„Was ist in euch gefahren? Seid ihr von Sinnen?“ brüllte er die Leute an. Voller unterdrückter Wut drehte er sich im Kreis, immer darauf bedacht, mich zu schützen. Ich konnte nicht alleine stehen, musste mich auf ihn stützen, keuchte und würgte. Alles an mir war wund, zerschlagen. Sie hatten ganze Arbeit geleistet.

„Er ist ein Ungeheuer“, brach es aus der Meute, „er wird uns allen nur Unglück bringen, wie schon seiner verfluchten Mutter. Dieses … Schlitzauge!“ Hass, Angst – aus Unverständnis und Beschränktheit geboren und genährt.

Ich bin anders. Im Dorf munkelte man, dass sich meine unglückselige Mutter mit einem aus dem alten Volk eingelassen hatte. Daher meine tiefblauen Augen – mit einer geschlitzten Pupille. So eine Pupille war in ganz Ashot noch nie gesehen worden. Das tintenschwarze Haar und die fast weiße Haut spielten da keine Rolle mehr. Fragen konnte ich meine Mutter allerdings nicht mehr, sie war bei meiner Geburt gestorben.

Mein Großvater, die Götter seien seiner Seele gnädig, hatte bis zuletzt verhindert, dass sie mir etwas Schlimmeres antaten. Schließlich war er der Oheim des Dorfes. Aber gestern wurde er bestattet. Und sie verschwendeten keine Zeit. In der Nacht holten sie mich.

Edgar kniete sich vor mir nieder und zwang mich, ihm in die Augen zu sehen.

„Hör zu. Hörst du mich?“ Ich versuchte vergeblich, meinen Blick zu schärfen, aber die hellen Fackeln stachen mir in das verbliebene Auge und daher blinzelte ich nur. Sein rotes Haar war das einzige, was ich erkennen konnte. Kupfern, das Licht der Fackel wiedergebend. Aber nicht sein Gesicht.

„Ich kann sie nicht aufhalten, Rouven. Du musst gehen, hörst Du? Sonst werden sie dich noch umbringen. Versuch nach Kohlwall durchzukommen, da bist zu sicherer.“

Eindringlich sprach er auf mich ein, zischend, und schließlich nickte ich. Ich sollte das Dorf, meine Heimat verlassen. Eine Familie hatte ich nach dem Tod von Großvater nicht mehr. Und Edgar war mein einziger Freund aber bei ihm konnte ich nicht bleiben.

So raffte ich mich mit seiner Hilfe auf. Schlurfte geschunden an den verschlossenen Mienen der Dörfler vorbei. An Kuno dem Schmied, der seinen Hammer verkrampft hielt, an Ulla der Dorfältesten, die das Zeichen gegen den bösen Blick machte, an Hanna, die ihr Gesicht hinter dem Arm ihres Mannes Gerold versteckte. Sie war so alt wie ich, war das einzige Mädchen, das mit mir und Edgar redete, und jetzt mit diesem Idioten Gerold verheiratet war. Mich durfte sie nicht heiraten, auch wenn wir es uns gewünscht hatten.

Am Ende des Dorfes, dort wo eigentlich die Straße sein sollte, bauschte sich der Schnee. Unser Dorf war seit einem dreiviertel Mond – wie immer in einem schneereichen Winter – von der restlichen Welt, von allem abgeschnitten.

Nun also war ich allein. Der mühsame Marsch durch den frostgefroren Schnee erwärmte mich nicht. Die Nacht war kristallen, gefroren und eisig. Mein Atem kam stoßweise und bildete kleine Dampfwolken, die sich auf meinen Haaren und der Kapuze des Umhangs niederschlugen und dort zu Kristallen wurden. Die vielen Schläge hatten auf meinem ganzen Körper Spuren hinterlassen. Alles, jeder Schritt, jeder Atemzug, schmerzte.

Im Wald war ich nicht sicher. Wölfe, Eiskrähen und nicht zuletzt die Baumkatzen würden bald meine Witterung aufgenommen haben. Und da der Winter bereits lange anhielt, war der Hunger auf Beute – egal  welcher Art – bestimmt groß. Das war auch der Grund, weshalb die Wölfe meinen Großvater angegriffen hatten. Sie waren ausgehungert und gierig.

Als ich den Wald verließ, entfaltete sich ein prächtiger Sternenhimmel über mir. Zahllos, kalt, gleichgültig. Die Nacht selbst machte mir keine Angst, im Gegenteil. Schon immer fühlte ich mich ihr näher als dem strahlendsten Tag. Meine Augen sahen nachts besser und ich wusste, dass meine geschlitzte Pupille jetzt weit geöffnet war.

Als ein Wolf hinter mir im Wald heulte, wurde mir beklommen bewusst, dass sie meine Fährte aufgenommen hatten. Gehetzt humpelte ich los. Mein Auge sah mühelos jede Einzelheit, ich stolperte nicht deswegen, sondern weil der Schnee jeden meiner Schritte beschwerlich machte. Mein Blick heftete sich auf die Gebirgskette von Hardor, die weit, viel zu weit auf der anderen Seite der Ebene von Weitblick lag. Und erst dort, in den Ausläufern des mächtigen Gebirges, lag Kohlwall.

Hetzen, humpeln, rennen, keuchen, schniefen. Wie sollte ich das nur schaffen?

Da hörte ich bereits, wie das Rudel hinter mir aus dem Wald brach. Sie jagten. Mich.

Meine Füße waren längst vom Eis und Schnee zerschnitten, meine Lunge schien erfroren, starr. Und als ich zurückblickte brach mir nun doch der Schweiß aus. Nur noch wenige hundert Schritte, und sie waren schnell. Der Schnee stob unter ihren Pfoten, ich konnte schon ihr Hecheln hören. Zielstrebig, sich ihrer Beute sicher, fächerte die Meute auf. Es würde kein Entkommen geben.

Deshalb blieb ich stehen, abrupt, drehte mich zu ihnen um. Jedes weitere Weglaufen wäre vergeblich. Auch wenn ich keine Waffe bei mir hatte, ich wollte und konnte nicht weiterrennen. Keuchend stützte ich mich auf den Knien auf und starrte ihnen entgegen.

Sie waren schnell heran, umkreisten mich, stierten mich mit ihren gelben Augen an. Hunger. Knurren, hecheln, Speichel der tropfte, Zähne wie Messer. Gleich würden sie sich auf mich stürzen, einer von ihnen würde den Anfang machen, mich anspringen und mich von den Füßen zerren. Der Rest würde mich dann gnadenlos in Stücke reißen.

Mein Verhalten schien sie jedoch zu verunsichern. Ich blickte um mich, drehte mich im Kreis. Warum griffen sie nicht an? Sie hechelten noch wegen der Hatz, schnappten nach mir, aber sonst…

Es war absurd. Wider der Natur. Aber das war ich schließlich auch.

Ich breitete die Arme aus, mühsam, warf den Kopf in den Nacken und blickte hinauf zu den Sternen. Das, genau das, sollte mein letzter bewusster Gedanke sein. Sterne, endloser Horizont, sanftes Leuchten.

Es geschah nichts. Mein Kopf ruckte nach unten, es war still um mich. Die Wölfe liefen weg. Waren beinahe schon wieder im Wald verschwunden.

Verwirrt drehte ich mich um die eigene Achse. Weg. Lautlos, so als hätten sie sich vor etwas gefürchtet. Lediglich die Spuren ihrer Pfoten bezeugten, dass sie tatsächlich da gewesen waren.

Nicht einmal sie wollten mich. Oder hatten damals schon instinktiv erkannt, wer vor ihnen stand.

Die Anspannung, die Todesangst fielen von mir ab. Schluchzend fiel ich in den Schnee, meine Beine wollten mich nicht mehr tragen. Schmerzhaft schlug ich auf, stöhnte, konnte einfach nicht mehr. Meine Leute – das waren sie immer noch für mich, auch wenn sie es nicht so sahen – hatten mich verstoßen und zum Sterben davongejagt. Und jetzt diese Hatz, die Wölfe, die plötzliche Stille. Ich schrie auf, laut und gequält.

Ich weiß nicht, wie lange ich so dort lag. Irgendwann erreichte die erbarmungslose Kälte meinen Verstand. Ich richtete mich auf. Mit einem reißenden Geräusch löste sich der Mantel aus dem Dreck. Wohin jetzt? Kohlwall? Das war zumindest die nächste Ansiedlung von Menschen. Das bedeutete Wärme, ein Feuer, vielleicht warmes Essen, ein Lager.

Ich humpelte los, wund, gedemütigt, zerschlagen. Dort liegen zu bleiben hätte den sicheren Tod bedeutet. So setzte ich einen Fuß vor den anderen, zählte die Schritte um mich von den Schmerzen abzulenken. Später fing ich an, laut die Märchen und Geschichten meines Volkes aufzusagen, und wieder später keuchte ich nur noch, weil der Marsch viel zu anstrengend war und meine Lippen und Wangen taub wurden von der Kälte. Die Nacht schien endlos.

Im Morgengrauen erreichte ich tatsächlich einen kleinen Wald, der sich über eine kleine Erhebung in der Ebene schmiegte. Von Weitem sah es aus, als ob es eine waldige Mütze wäre. Wolken hatten sich heran geschoben, es schneite dick und bald die Sicht nehmend. Ich schnupperte, Rauch lag in der Luft. Sehen konnte ich allerdings nichts. Trotzdem fand ich den Weg und entdeckte alsbald ein Feuer, dessen Schein durch die Ritzen eines hölzernen Fensterladens drang.

Ich klopfte nicht, ich stolperte hinein. Fiel zu Boden, hart, und verlor das Bewusstsein. Das letzte, was ich noch sah war das entsetzte Gesicht eines Eismenschen.

Von meiner Art.